Bliefe von dlüben: Der China-Crashkurs (German Edition)
«sechs Nicht-Erlaubt» im Fahrstuhl
Es gibt, so weiß die CIA laut ihrem World Fact Book, genau 1 330 044 544 chinesische Staatsbürger. Die hiesige Regierung ließ im Januar 2009 durch die Nachrichtenagentur Xinhua vermelden, 8,86 Millionen davon seien arbeitslos, das ist eine Quote von 4,3 Prozent. Allerdings wird in China praktischerweise die Arbeitslosigkeit nur in den Städten erhoben, denn das gibt ein besseres Bild. Man kann ruhigen Gewissens davon ausgehen, dass sie viel höher ist. Auf neun Prozent schätzt sie die CIA, andere westliche Experten sogar auf bis zu zwanzig.
Anders als das Merkel-Regime packt die chinesische Regierung das Problem jedoch entschlossen an. Sie hat eine große Zahl von Arbeitsplätzen geschaffen. Arbeitsplätze allerdings, die völlig überflüssig sind: Der unnützeste Job von allen ist der der Fahrstuhlknopfdrückerin. Fahrstuhlknopfdrückerinnen (im Folgenden FSKD) – es sind immer Frauen – haben nämlich den lieben langen Tag nichts anderes zu tun, als im Fahrstuhl auf einem Schemel zu hocken. Betritt man die Kabine, drückt die FSKD auf den Knopf des Stockwerks, das man zu betreten wünscht. Ist man angekommen, sagt sie: «Sie sind da.» Das ist alles.
Kurz nach meiner Ankunft in Peking dachte ich sogar, die FSKD seien in jedem chinesischen Fahrstuhl vorgeschrieben, weil ich sie in allen Fahrstühlen antraf. Damals hockten sie nicht nur in Hotellifts oder denen von Kauf-, Büro- und Krankenhäusern, sondern saßen auch in jedem ganz normalen Wohnblockaufzug. Da in China in den letzten Jahren rund eine Million Hochhäuser mit geschätzten vier Millionen Lifts gebaut wurden, setzte man damit rund ebenso viele Frauen in Lohn und Brot.
Unsere Stamm-FSKD war vielleicht sechzehn. Damit das junge Ding auch wusste, was es zu tun hatte, hing im Fahrstuhl eine Tafel mit den FSKD-Gesetzen. Darunter «Die drei Muss und die sechs Nicht-Erlaubt» des Fahrstuhlfahrens. Die drei Muss beinhalten: «Sicher fahren. Nicht erlaubte Fahrmanöver sind strikt verboten.» Die sechs Nicht-Erlaubt lauten u. a.: «Keine Leute ohne Fahrerlaubnis den Fahrstuhl fahren lassen.» «Nicht mit den Fahrgästen quatschen.» «Keine Gäste in der Kabine empfangen oder Privatsachen machen.» «Nicht unter Alkoholeinfluss fahren.» Am meisten interessiert mich immer noch, was die nicht erlaubten Fahrmanöver sind. Loopings? Leider konnte ich damals noch nicht genug Chinesisch, um zu fragen.
Unsere kleine Lifteuse hielt sich aber sowieso nicht an die Gesetze. Sie plapperte wie ein Wasserfall und lud ihre Freundinnen zum Handyausprobieren oder Chipstütenleerfressen in den Fahrstuhl ein. Während der Fahrt lackierte sie sich die Fingernägel und ließ ihre führerscheinlosen Kumpelinas die Knöpfe drücken. Auch die vorgeschriebene blassblaue Fahrstuhlknopfdrückerinnenuniform trug sie selten. Lieber hockte sie in pinkfarbenen Pullovern da und in Jeans mit draufgestickten «Hello Kitty»-Katzen. Meistens aber schwänzte sie. Dann stand sie mit irgendwelchen Jungs irgendwo im Hausflur herum oder ging auf die Straße, wo sie sich unter alte Omas mischte, die dort jeden Abend zu Technorhythmen tanzen.
Es gab jedoch in den Nachbarblocks FSKD, die ihren Job ernst nahmen. Die hatten sich in ihrem Lift häuslich eingerichtet, mit Kofferradios, Regalen, Heizlüftern und Topfpflanzen. Die Fahrstuhlknöpfe drückten sie mit selbstgefertigten langen Stäben, was lässiger aussah und sicher auch bequemer war. Sogar die Post wurde ihnen im Fahrstuhl zugestellt. Auf den Briefen stand dann nicht ihr Name, sondern nur die Adresse und «Fahrstuhlfahrerin Block 1, Fahrstuhl 2, Peking». Diese vorbildlichen FSKD führten auch das vorgeschriebene Fahrstuhlfahrtenbuch. Kam man nach dreiundzwanzig Uhr, hatte man sie zu wecken und sich mit Begründung einzutragen. Die meisten Leute schrieben dann verschämt «Essen essen» rein. Ich vermute aber, dass in Wirklichkeit fast alle «Getränke trinken», «Karaoke grölen» oder «mit Friseusen rummachen» waren.
Die FSKD sollten eben nicht alles über einen wissen. Das taten sie aber doch. Von mir wusste Hello Kitty sehr bald, dass ich im zwanzigsten Stock wohnte. Das war mir auch ganz recht, denn anfangs musste ich ihr jedes Mal das Stockwerk nennen. «Zwanzig» heißt auf Chinesisch «er shi», was aber wie «Arsche» ausgesprochen wird. Das war mir peinlich, weshalb ich die Zahl nur leise murmelte. «Shen me?», flötete Kitty, «wie bitte?» Ich daraufhin laut,
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