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Blind

Blind

Titel: Blind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joe Hill
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Aussage in Jessicas Hirn einsickerte. Sie schaute ihren Stiefvater erschrocken und verwirrt an.
    »Jeder weiß, was mit Anna los ist«, fuhr er fort. »Wie unglücklich sie immer gewesen ist. Jeder hat schon immer gewusst, wie das mal enden würde. Eines Tages würde sie sich in die Badewanne legen und die Pulsadern aufschneiden.«
    Jessica schüttelte den Kopf. Sie wollte aufstehen, aber Craddock hielt sie am Handgelenk fest und zog sie zurück auf die Knie.
    »Das mit dem Gin und den Medikamenten passt gut. Viele kippen ein paar Drinks und werfen sich ein paar Tabletten ein, bevor sie es tun. Bevor sie sich umbringen. So besänftigen sie ihre Ängste und betäuben die Schmerzen«, sagte er.
    Jessica schüttelte immer noch den Kopf, panisch, mit hellen, entsetzten, blinden Augen, die Craddock nicht mehr sahen. Ihr Atem kam in kurzen Stößen, sie hyperventilierte fast.
    Als Craddock wieder sprach, war seine Stimme fest und ruhig. »Du musst dem ein Ende machen. Jetzt. Willst du, dass Anna dir Reese wegnimmt? Willst du, dass sie dich zehn Jahre in eine Anstalt sperren?« Er packte Jessicas Handgelenk fester und zog sie zu sich heran, sodass er direkt in ihr Gesicht sprach. Schließlich fokussierten sich ihre Augen auf die seinen, und sie hörte auf, den Kopf zu schütteln. »Das ist nicht unsere Schuld«, sagte Craddock. »Es ist Coynes Schuld. Er hat uns das aufgehalst, hörst du? Er hat uns diese Fremde ins Haus geschickt, die uns in den Abgrund reißen will. Ich weiß nicht, was mit unserer Anna passiert ist. An die wahre Anna kann ich mich schon gar nicht mehr erinnern. Die Anna, mit der du aufgewachsen bist, ist tot. Dafür hat Coyne gesorgt. Was mich anbelangt, hat er sie getötet. Genauso gut hätte er ihr gleich selbst die Pulsadern aufschlitzen können. Und er wird dafür bezahlen. Glaub mir. Ich werde ihm eine Lehre erteilen, so in die Familie eines Mannes einzudringen. Ruhig, Jessica, beruhige dich, hör mir zu. Wir werden das durchstehen. Ich werde dir helfen, das durchzustehen, so wie ich dir immer geholfen habe, wenn es dir schlecht gegangen ist. Du musst mir vertrauen. Atme tief durch. Und noch mal. Besser jetzt?«
    Ihre blaugrauen Augen waren weit und gierig: verzückt. Pfeifend atmete sie aus, lang und langsam, dann noch einmal.
    »Du schaffst das«, sagte Craddock. »Ich weiß, dass du es schaffst. Was immer du tun musst, für Reese schaffst du es.«
    »Ich werde es versuchen«, sagte Jessica. »Aber du musst mir sagen, was ich zu tun habe. Ich kann nicht denken.«
    »Schon gut. Ich werde für uns beide denken«, sagte Craddock. »Du musst nicht viel tun. Du musst jetzt nur aufstehen, ins Bad gehen und Wasser in die Wanne lassen.«
    »Ja, gut.«
    Jessica versuchte wieder, sich zu erheben, aber Craddock hielt sie noch einen Moment fest.
    »Und wenn du das gemacht hast«, sagte Craddock, »dann läufst du nach unten und holst mir mein altes Pendel. Für Annas Pulsadern.«
    Dann ließ er sie los. Jessica stand so schnell auf, dass sie das Gleichgewicht verlor und sich an der Wand abstützen musste. Kurz schaute sie ihn an, drehte sich dann wie in Trance um, öffnete die Tür direkt links von sich und betrat das weiß geflieste Badezimmer.
    Craddock blieb auf dem Boden sitzen, bis er das Geräusch von rauschendem Wasser hörte. Dann erhob er sich. Schulter an Schulter mit Jude stand er im Flur.
    »Du alter Wichser«, sagte Jude. Die Seifenblasenwelt verzog sich, geriet ins Schwimmen. Jude biss die Zähne zusammen und zwang sie wieder in ihre alte Form.
    Die zurückgezogenen schmalen, blassen Lippen mit den entblößten Zähnen verwandelten Craddocks Gesicht in eine bittere, hässliche Fratze. Das alte Fleisch auf der Rückseite seiner Arme war schwabbelig. Als er langsam auf Annas Zimmer zuging, schwankte er leicht irgendetwas war ihm durch Annas Attacke abhanden gekommen. Er stieß die Tür auf. Jude folgte ihm.
    Annas Zimmer hatte zwei Fenster. Beide befanden sich an der Rückseite des Hauses, an der von der gerade untergegangenen Sonne abgewandten Seite. Das Zimmer lag in tiefblauer Dunkelheit, hier war schon Nacht. Anna saß am Fußende des Bettes, zwischen ihren Turnschuhen lag ein leeres Wasserglas auf dem Boden. Hinter ihr auf der Matratze lag ein Matchsack, in den sie hastig ein paar Klamotten gestopft hatte. Der Ärmel einesroten Pullovers hing heraus. Annas Gesicht war von einer freundlichen Ausdruckslosigkeit, die Unterarme lagen auf den Knien, die glasigen Augen waren auf einen nicht

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