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Blind

Blind

Titel: Blind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joe Hill
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Junge«, flüsterte Jude. »Guter Junge.«
    Schließlich drehte er sich wieder um und machte es sich in seinem Sitz bequem. Die Strumpfpuppe auf seiner rechten Hand hatte ein rotes Gesicht. Er brauchte unbedingt eine Spritze, die seine Schmerzen betäubte. Vielleicht, dachte er, finde ich die im Radio: Lynyrd Skynyrd oder wenigstens die Black Crows. Er schaltete das Radio ein und drehte schnell über atmosphärisches Rauschen und den Doppier-Effekt eines verschlüsselten Militärsenders hinweg zu Hank Williams III. Vielleicht war es auch nur Hank Williams, das Signal war so schwach, dass er es nicht genau erkennen konnte. Und dann …
    Dann erwischte der Tuner ein Signal, das glasklar war: Craddocks Stimme.
    »Hätte nie gedacht, mein Junge, dass du so viel Mumm hast.« Die Stimme in den Türlautsprechern klang herzlich und vertraut. »Aufgeben ist nicht deine Sache, was? Normalerweise schätze ich so was. Normalerweise. Natürlich nicht in diesem Fall. Das verstehst du sicher.« Er lachte leise. »Weißt du, die meisten Menschen bilden sich ein, dass sie die Bedeutung des Wortes ›aufgeben‹ gar nicht kennen, dass sie gar nicht wissen, was das ist. Aber das stimmt nicht. Weißt du, was sie machen, wenn man sie untertaucht, tief untertaucht, wenn man vielleicht mit ein bisschen gutem Stoff noch etwas nachhilft und sie in eine totale Trance versenkt und ihnen dann sagt, dass sie bei lebendigem Leib verbrennen? Sie schreien nach Wasser, bis sie nicht mehr schreien können. Sie machen alles, nur damit es aufhört. Alles, was man will. Das ist die menschliche Natur. Aber mit einigen, meistens Kindern und Verrückten, kann man nicht vernünftig reden, auch nicht, wenn sie in Trance sind. Und Anna, Gott sei mit ihr, war beides. Ich hab alles versucht, dass sie die Sachen vergisst, die sie so bedrückt haben. Sie war ein gutes Mädchen. Wie sie sich zerrissen hat wegen aller möglichen Sachen, das hat mir das Herz gebrochen – sogar wegen dir. Aber ich hab es nie ganz geschafft, sie von all dem zu befreien, auch wenn ihr das alle Schmerzen erspart hätte. Manche Menschen leiden eben lieber. Kein Wunder, dass sie dich gemocht hat. Du bist genauso. Ich wollte mit dir kurzen Prozess machen. Aber du musstest die Sache ja in die Länge ziehen. Du wirst dich noch fragen, wofür das alles. Wenn der Hund da auf deinem Rücksitz aufhört zu atmen, dann wirst auch du aufhören zu atmen. Und das wird hart für dich werden, härter, als du es hättest haben können. Du hast drei Tage lang wie ein Hund gelebt, und jetzt wirst du auchso sterben. Und die Zweidollarnutte da neben dir genauso …«
    Marybeth schaltete das Radio aus. Es ging sofort wieder an.
    »… du hast geglaubt, du könntest mein kleines Mädchen gegen mich aufhetzen und nicht bezahlen dafür …«
    Jude hob einen Fuß und trat mit der Hacke seiner Doc Martens ins Armaturenbrett. Knirschend zersplitterte die Plastikfront. Craddocks Stimme ging in einem ohrenbetäubenden Bassbrummen unter. Jude trat noch einmal gegen das Radio und brachte es endgültig zum Schweigen.
    »Weißt du noch, wie ich gesagt habe, dass der tote Mann nicht hinter uns her ist, weil er plaudern will?«, sagte Jude zu Marybeth. »Hab mich wohl geirrt. In letzter Zeit denke ich immer öfter, dass er nur deshalb hinter uns her ist.«
    Marybeth erwiderte nichts darauf. Eine halbe Stunde später sagte Jude, dass sie bei der nächsten Ausfahrt raus müssten.
    Sie fuhren auf einen zweispurigen State Highway. Südlicher, subtropischer Wald drängte sich zu beiden Seiten bis an die Straße und neigte sich über die Fahrbahn. Sie kamen an einem Autokino vorbei, das schon keine Filme mehr gespielt hatte, als Jude noch ein Kind war. In der riesigen Leinwand, die hoch neben der Straße aufragte, klafften Löcher, durch die man den Himmel sehen konnte. Heute Abend stand nur eine schmutzige Rauchwolke auf dem Programm. Sie rollten am verrammelten New South Motel vorbei, das sich der Dschungel schon vor langer Zeit zurückgeholt hatte. Eine Tankstelle war der erste Laden, der geöffnet hatte. Zwei sonnenverbrannte fette Männer saßen vor der Tür und schauten ihnen hinterher. Sie lächelten nicht, winkten nicht und reagierten auch sonst nicht auf den vorbeirauschenden Mustang, außer dass einer der beiden sich vorbeugte und in den Dreck spuckte.
    Jude dirigierte sie auf eine Landstraße, die vom Highway links abzweigte und in die niedrigen Hügel führte. Das Licht des Nachmittags war eigenartig, ein blasses,

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