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Blind

Blind

Titel: Blind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joe Hill
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Ohren ploppten auf. Es kam ihm vor, als wären Kopf und Füße meilenweit voneinander entfernt. Als er den ersten Schritt machte, fühlte er sich seltsam leicht, fast schwerelos, wie ein Taucher, der federnd über den Grund des Ozeans hüpfte. Während er durch den Flur ging, versuchte er, den Raum um sich herum durch schiere Willenskraft wieder in seine realen Formen und Dimensionen zu zwingen. Es funktionierte. Damals bewirkte sein Wille noch etwas. Wenn er aufpasste, konnte er durch diese Seifenblasenwelt spazieren, ohne dass sie zerplatzte.
    Seine Hände schmerzten, beide, nicht nur die rechte. Sie fühlten sich an, als wären sie zur Größe von Boxhandschuhen angeschwollen. Der Schmerz kam in gleichmäßigen, rhythmischen Wellen, im Takt mit seinemHerzschlag … domm-domm-domm … wie Reifen auf der Straße. Das Geräusch vermischte sich mit dem Klappern und Brummen der Klimaanlage in Craddocks Zimmer und bildete einen absurden, eigenartig beruhigenden Klangteppich.
    Er wollte nichts sehnlicher, als Anna zuzurufen, dass sie verschwinden, dass sie die Treppe hinunter und aus dem Haus rennen solle. Allerdings befürchtete er, dass er sich in das Geschehen nicht einmischen konnte, ohne das zarte Gewebe des Traums zu zerreißen. Außerdem, Vergangenheit war Vergangenheit. An dem, was passieren würde, konnte er jetzt ebenso wenig noch etwas ändern, wie er durch sein Rufen Bammys Schwester Ruth hatte retten können. Man konnte nichts ändern, aber man konnte Zeugnis ablegen.
    Jude fragte sich, warum Anna überhaupt nach oben gekommen war. Vielleicht hatte sie noch ein paar Sachen einpacken wollen, bevor sie das Haus verließ. Sie hatte keine Angst mehr vor ihrem Vater und Jessica, glaubte nicht, dass sie noch Gewalt über sie besaßen das zeugte von einem Vertrauen in sich selbst, das schön, herzzerreißend und verhängnisvoll war.
    »Ich hab dir gesagt, du sollst mir vom Leib bleiben«, sagte Anna.
    »Tust du das für ihn?«, fragte Craddock. Bisher war sein Tonfall der des höflichen Südstaatlers gewesen. Jetzt war nichts mehr von Höflichkeit zu spüren, sein Akzent war scharf, der Kumpel, der nichts Kumpelhaftes mehr an sich hatte. »Gehört das alles zu irgendeinem verrückten Plan, mit dem du ihn zurückgewinnen willst? Glaubst du, du kriegst seine Zuneigung zurück, wenn du mit dieser weinerlichen Geschichte angekrochen kommst? Dein Stiefvater, der schreckliche Sachen von dir verlangt, der dein Leben zerstört? Ich wette, du kannst es gar nicht mehr erwarten, vor ihm das Maul aufzureißen. Wie du mir die Meinung gegeigtund eine verpasst hast, einem alten Mann, der sich um dich gekümmert hat, als du krank warst, und dich vor sich selbst beschützt hat, wenn du durchgedreht bist. Glaubst du, er wäre stolz auf dich, wenn er jetzt hier wäre? Wenn er gesehen hätte, wie du mich angefallen hast?«
    »O ja, das glaube ich«, sagte Anna. »Er wäre stolz auf mich, wenn er das gesehen hätte.« Sie trat einen Schritt vor und spuckte ihm ins Gesicht.
    Craddock zuckte zusammen und heulte mit erstickter Stimme auf, als hätte man ihm eine ätzende Säure in die Augen gesprüht. Jessica, deren Finger sich zu Klauen krümmten, wollte aufspringen, aber Anna packte sie an der Schulter und stieß sie wieder nach unten an die Seite ihres Stiefvaters.
    Anna schaute auf sie herunter, zitternd, aber nicht mehr so außer sich wie noch vor wenigen Sekunden. Jude streckte zögernd den Arm aus, legte ihr seine verbundene Hand auf die Schulter und drückte sie sanft. Schließlich hatte er es doch gewagt, sie zu berühren. Anna schien es nicht zu bemerken. Während seine Hand auf ihrer Schulter lag, geriet die Wirklichkeit einen Augenblick lang wieder aus den Fugen, doch er zwang alles zurück in die Normalität, indem er sich ganz auf den Klangteppich im Hintergrund konzentrierte, auf die Musik des Augenblicks … auf das domm-domm-domm, auf das Klappern und Brummen.
    »Gut gemacht, Florida«, sagte er. Ehe er sich's versah, war ihm das Wort herausgeschlüpft. Es hörte nie auf.
    Anna bewegte leicht den Kopf hin und her. Ein abfälliges Kopfschütteln. Als sie wieder sprach, klang aus ihrer Stimme Überdruss. »Und vor dir hatte ich Angst.«
    Sie drehte sich um, glitt unter Judes Hand hinweg und ging zu dem Zimmer am Ende des Flurs. Sie betrat das Zimmer und schloss die Tür.
    Jude hörte ein Geräusch. Pitsch … pitsch … pitsch. Erschaute nach unten und sah, dass es von dem blutdurchtränkten Strumpf, in dem seine rechte

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