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Blind

Blind

Titel: Blind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joe Hill
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fassbaren Punkt in der Ferne gerichtet. Das cremefarbene Kuvert mit dem Polaroid von Reese – ihr Beweisstück – steckte vergessen in einer Hand. Sie so zu sehen machte Jude krank.
    Jude sank neben ihr aufs Bett. Die Matratze quietschte, aber niemand – weder Anna noch Craddock – hörte es. Er legte seine linke Hand auf ihre rechte Hand. Die Stichwunde in seiner linken Hand blutete wieder, der fleckige Verband hatte sich gelockert. Seit wann blutete sie wieder? Die rechte Hand schmerzte. Sie war so schwer, dass er sie nicht hochheben konnte. Schon beim Gedanken daran, sie zu bewegen, wurde ihm schwindelig.
    Craddock blieb vor seiner Stieftochter stehen, beugte sich nach unten und musterte ihr Gesicht.
    »Anna? Hörst du mich? Hörst du meine Stimme?«
    Sie schaute weiter lächelnd vor sich hin und zeigte zunächst keine Reaktion. Dann blinzelte sie und sagte: »Was? Hast du was gesagt, Craddock? Ich hab Jude zugehört. Im Radio. Das ist mein Lieblingssong.«
    Seine Lippen verspannten sich, bis sie völlig farblos waren. »Dieser Kerl«, presste er zischend hervor. Er nahm eine Ecke des Umschlags und riss ihn ihr aus der Hand.
    Dann richtete er sich auf und ging zu einem der Fenster, um ein Rollo herunterzuziehen.
    »Ich liebe dich, Florida«, sagte Jude, und sofort blähte sich das Zimmer um ihn herum auf. Die Seifenblase schwoll an und drohte zu platzen, zog sich dann aber wieder zusammen.
    »Ich liebe dich auch, Jude«, sagte Anna sanft.
    Craddock erschrak so, dass seine Schultern nach oben zuckten. Er drehte sich um und schaute sie verwundert an. Dann sagte der alte Mann: »Du und dieserCoyne, ihr werdet bald wieder vereint sein. Das wolltest du doch immer, jetzt bekommst du es. Ich mach's möglich. So schnell ich kann, bring ich euch beide wieder zusammen.«
    »Gottverdammter Dreckskerl«, sagte Jude. Als sich der Raum dieses Mal aufpumpte und zerdehnte, konnte er die Veränderung nicht mehr rückgängig machen. Sosehr er sich auch auf das domm-domm-domm konzentrierte, er schaffte es nicht. Die Wände blähten sich auf und fielen wieder in sich zusammen wie flatternde Bettlaken an einer Wäscheleine.
    Die Luft im Zimmer war warm und stickig und roch nach Abgasen und Hund. Jude hörte hinter sich ein leises Winseln, schaute sich um und sah Angus, der genau da auf dem Bett lag, wo eben noch Annas Matchsack gelegen hatte. Er atmete schwerfällig, seine Augen waren verklebt und gelb. Aus dem gebrochenen Bein ragte ein scharfkantiger roter Knochen.
    Jude wandte den Kopf zu Anna und sah Marybeth neben sich auf dem Bett sitzen, mit dreckigem Gesicht und harten Zügen.
    Craddock zog jetzt eins der Rollos herunter und dunkelte das Zimmer noch mehr ab. Jude schaute aus dem anderen Fenster und sah die am Interstate vorüberziehende grüne Landschaft, sah Palmen, sah im Gestrüpp hängenden Abfall und dann ein grünes Hinweisschild, auf dem AUSFAHRT 9 stand. Seine Hände machten domm-domm-domm. Die Klimaanlage summte, brummte, summte. Zum ersten Mal fragte sich Jude, wie es möglich war, dass er immer noch Craddocks Klimaanlage hören konnte. Das Zimmer des alten Mannes lag am anderen Ende des Flurs. Dann fing etwas an zu klicken, in regelmäßigen Abständen, wie ein Metronom: der Blinker.
    Craddock ging zum anderen Fenster und versperrte Jude die Sicht auf den Highway. Er zog auch das zweiteRollo herunter und tauchte Annas Zimmer in völlige Dunkelheit. Endlich Einbruch der Dunkelheit.
    Jude schaute wieder zu Marybeth, die mit starrem Kinn, eine Hand auf dem Lenkrad, neben ihm saß. Auf der Armaturentafel blinkte in regelmäßigen Abständen das Blinkersignal, und er öffnete den Mund, um etwas zu sagen. Was, wusste er nicht, irgendwas in der Art von …
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    »He, was soll das?« Seine Stimme war ungewohnt krächzend. Marybeth steuerte die Ausfahrt an, hatte sie fast erreicht. »Das ist die falsche.«
    »Ich hab dich fünf Minuten lang geschüttelt, aber du bist nicht aufgewacht. Hab schon gedacht, du bist ins Koma gefallen. Wir fahren jetzt ins Krankenhaus.«
    »Fahr weiter. Jetzt bin ich ja wach.«
    Im letzten Moment riss sie das Lenkrad herum und fuhr wieder auf den Highway. Hinter ihnen heulte eine Hupe.
    Jude schaute sich zu Angus um und fragte: »Na, wie geht's dir, mein Alter?«
    Er griff zwischen den beiden Sitzen nach hinten und berührte eine seiner Pfoten. Für einen kurzen Augenblick kam Leben in Angus' Augen. Er bewegte die Schnauze, die Zunge fand Judes linke Hand und leckte über die Finger.
    »Guter

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