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Blind

Blind

Titel: Blind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joe Hill
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giftiges Rot, dass nach Dämmerung und Sturm aussah. Es hatte die Farbe, die Jude sah, wenn er die Augen schloss, die Farbe seiner Kopfschmerzen. Die Nacht brach noch lange nicht herein, aber es sah so aus. Die aufgeblähten Wolken im Westen hingen dunkel und bedrohlich am Himmel. Der Wind peitschte die Wipfel der Palmen und zerrte an dem Louisianamoos, das von den tiefen Zweigen der Eichen herunterhing.
    »Wir sind da«, sagte er.
    Als Marybeth in die lange Einfahrt zum Haus einbog, schleuderte eine ungewöhnlich heftige Windbö einen Schwall fetter, harter Regentropfen über die Windschutzscheibe. Wild trommelnd, prasselten sie auf das Glas. Jude wartete auf mehr, aber es kam nichts mehr.
    Das Haus stand auf einer kleinen Anhöhe. Jude war seit drei Jahrzehnten nicht mehr hier gewesen, und erst in diesem Augenblick wurde ihm bewusst, wie sehr sein Haus in New York dem seiner Kindheit ähnelte. Es war, als hätte er einen Zeitsprung von zehn Jahren in die Zukunft gemacht, würde gerade nach New York zurückkommen und sähe seine eigene Farm: verwahrlost, unbewohnt, zerfallen. Das große, verschachtelte Haus lag mausgrau vor ihm, von den schwarzen Dachschindeln waren viele zerbrochen oder fehlten ganz. Als sie näher heranfuhren, sah Jude, wie der Wind sich eines der schwarzen Rechtecke schnappte, es losriss und in den Himmel wirbelte.
    An dem unbenutzten Hühnerstall, der sich an eine Seite des Hauses lehnte, schwang die Gittertür auf und schlug wieder zu. Es knallte wie ein Pistolenschuss. Aus einem Fenster im Erdgeschoss war das Glas herausgefallen, und die halb durchsichtige Plastikplane, die man auf den Rahmen getackert hatte, flatterte imWind. Und plötzlich wusste Jude, dass dies immer ihr Ziel gewesen war. Seit sie losgefahren waren, hatten sie dieses Haus angesteuert.
    Der Weg aus blanker Erde, der zum Haus führte, endete in einer Schleife. Marybeth fuhr durch die Kurve, wendete den Mustang, sodass er mit der Haube zur Straße zeigte, und schob den Automatikhebel in die Stellung P. Im gleichen Augenblick leuchteten unten an der Straße die Suchscheinwerfer von Craddocks Pick-up auf.
    »O Gott«, sagte Marybeth, stieg sofort aus und ging vorn um den Wagen herum zur Beifahrerseite.
    Der blasse Pick-up am unteren Ende der Einfahrt schien einen Moment innezuhalten und kroch dann langsam die Anhöhe hinauf.
    Marybeth riss die Tür auf. Jude fiel fast aus dem Wagen. Sie zog an seinem Arm.
    »Los, komm, wir müssen ins Haus.«
    »Angus …«, sagte Jude und schaute nach hinten zu seinem Hund.
    Angus' Kopf lag auf den Vorderpfoten. Müde blickten die rot geränderten, feuchten Augen in Judes Richtung.
    »Er ist tot.«
    »Nein«, sagte Jude. Er war sich da ganz sicher. »Wie geht's dir, mein Junge?«
    Angus' Augen schauten traurig, aber sein Körper bewegte sich nicht. Der Wind wehte ins Auto und wirbelte einen leeren Pappbecher über den Boden. Es raschelte leise. Die Brise richtete Angus' Fell auf, bürstete es gegen den Strich. Angus war es egal.
    Angus konnte nicht einfach so gestorben sein, ohne jeden Tusch. Noch vor ein paar Minuten, davon war Jude überzeugt, hatte er noch gelebt. Jude stand im Dreck neben dem Mustang und war sich sicher, dass er nur einen Moment warten musste, dann würde Angus sich bewegen, würde seine Vorderpfoten dehnen undden Kopf heben. Dann zog Marybeth ihn wieder am Arm, und er hatte nicht die Kraft, sich dagegen zu wehren. Er musste mit ihr mitstolpern, sonst würde er in den Dreck fallen.
    Knapp einen Meter vor den Treppenstufen zum Haus fiel er auf die Knie. Er wusste nicht, warum. Er hatte einen Arm über Marybeths Schultern, sie einen Arm um seine Hüfte gelegt. Ächzend, mit zusammengepressten Lippen, hievte sie ihn wieder hoch. Er hörte den knirschenden Kies unter den Reifen, als hinter ihnen der Pick-up des toten Mannes ausrollte und stehen blieb.
    Hallo, mein Junge, rief Craddock durch das offene Fenster an der Fahrerseite. Jude und Marybeth blieben vor der Haustür stehen und schauten sich um.
    Der Pick-up stand im Leerlauf neben dem Mustang. Craddock saß am Steuer. Er trug seinen formellen schwarzen Anzug mit den Silberknöpfen. Der linke Arm hing aus dem Fenster. Hinter der gewölbten blauen Windschutzscheibe war sein Gesicht kaum zu erkennen.
    Dein Haus, Sohnemann?, fragte Craddock. Er lachte. Wie hast du bloß von hier wegziehen können? Er lachte wieder.
    Aus der Hand, die aus dem Seitenfenster hing, fiel die halbmondförmige Klinge und baumelte an ihrer glänzenden

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