Blind
Hand steckte, auf den Boden tropfte. Die silbernen Jackenknöpfe auf seinem Johnny-Cash-Anzug schimmerten in den allerletzten Strahlen des lachsfarbenen Tageslichts. Erst jetzt fiel ihm auf, dass er den Anzug des toten Mannes trug. Wirklich ein verdammt scharfes Outfit. Nicht eine Sekunde hatte Jude sich gefragt, wie es möglich war, dass er Zeuge dieser Szene werden konnte. Doch jetzt hatte er plötzlich eine Antwort auf diese ungebetene Frage. Er hatte den Anzug des toten Mannes gekauft und auch den toten Mann selbst, ihm gehörte der Geist und die Vergangenheit des Geistes. Also auch diese Augenblicke.
Jessica kauerte neben ihrem Stiefvater. Beide keuchten heiser und schauten zur Tür von Annas Zimmer. Jude hörte, wie Schubladen herausgezogen und wieder geschlossen wurden, hörte das dumpfe Knallen einer Schranktür.
»Einbruch der Dunkelheit«, flüsterte Jessica. »Endlich Einbruch der Dunkelheit.«
Craddock nickte. Er hatte direkt unter dem linken Auge einen Kratzer im Gesicht, von Annas Fingernagel, als sie ihm die Brille heruntergerissen hatte. Eine Träne aus Blut lief an seiner Nase herab. Er wischte sie mit dem Handrücken weg und schmierte sich dabei einen roten Streifen über die Wange.
Jude schaute von oben durch das große Panoramafenster in der Eingangshalle. Der Himmel war tiefblau, fast dunkel, aber noch nicht nachtschwarz. Entlang dem Horizont, jenseits der Bäume und Dächer auf der anderen Straßenseite, verlief da, wo die Sonne eben erst untergegangen war, eine schmale tiefrote Linie.
»Was hast du gemacht?«, fragte Craddock leise. Seine Stimme war etwas zu schrill für ein Flüstern und immer noch zitterig vor Zorn.
»Ich durfte sie ein paarmal hypnotisieren«, sagte Jessica mit genauso leiser Stimme. »Damit sie besser einschlafen kann. Und da hatte ich die Idee für eine Suggestion.«
In Annas Zimmer herrschte kurz Stille. Dann hörte Jude deutlich das Geräusch von klingendem Glas, eine Flasche, die an ein Glas stieß, dann leises Gluckern.
»Was für eine Suggestion?«, fragte Craddock.
»Ich hab ihr gesagt, dass bei Einbruch der Dunkelheit die beste Zeit für einen Drink ist. Ich hab ihr gesagt, als Belohnung dafür, wenn sie gut über den Tag gekommen ist. Sie hat die Flasche in der obersten Schublade.«
In Annas Zimmer weiter quälende Stille.
»Und warum das?«
»Im Gin ist Phenobarbital«, sagte Jessica. »Sie schläft seit Tagen wie ein Baby.«
Etwas Hartes, Klingendes schlug auf den Holzboden in Annas Zimmer auf. Ein dickes Wasserglas.
»Gutes Mädchen«, flüsterte Craddock. »Ich wusste, dass dir was einfallen würde.«
»Du musst es einfach schaffen, dass sie die Fotos wieder vergisst«, sagte Jessica. »Dass sie alles vergisst, auch das, was gerade passiert ist. Du musst, hörst du?«
»Unmöglich«, sagte Craddock. »Das habe ich schon lange nicht mehr geschafft. Als sie noch jünger war, ja … da hat sie mir noch vertraut. Vielleicht du …«
Jessica schüttelte den Kopf. »Ich kann sie nicht so tief in Trance versetzen wie du. Bei mir lässt sie das nicht zu, ich hab's probiert. Als ich sie das letzte Mal hypnotisiert habe, weil sie nicht einschlafen konnte, da habe ich sie nach Judas Coyne gefragt, was in den Briefen steht, die sie ihm schreibt, ob sie jemals was über … na, über dich geschrieben hat. Aber wenn ich zu persönlich geworden bin, wenn ich sie was gefragt habe, was sie mir nicht sagen wollte, hat sie angefangen, einen vonseinen Songs zu singen. Als ob sie mich aussperren wollte. So was hab ich noch nie vorher erlebt.«
»Daran ist nur Coyne schuld«, sagte Craddock mit geschürzter Oberlippe. »Er hat sie verdorben. Und zwar von Grund auf. Er hat sie umgepolt, gegen uns. Er hat sie für seine Zwecke benutzt, hat ihre ganze Welt zerstört und sie dann zu uns zurückgeschickt, damit sie unsere zerstört. Genauso gut hätte er uns eine Briefbombe schicken können.«
»Was machen wir jetzt? Es muss doch eine Möglichkeit geben, wie wir sie aufhalten können. In dem Zustand darf sie auf keinen Fall aus dem Haus. Du hast doch gehört, was sie gesagt hat. Sie nimmt mir Reese weg. Und dich. Sie werden uns beide einsperren, wir werden uns nie wiedersehen außer in Gerichtssälen.«
Craddock atmete jetzt langsam. Aus seinem Gesicht war jegliches Gefühl gewichen, in seinem Blick stand nur noch stumpfe, finstere Feindseligkeit. »Mit einem hast du recht, mein Mädchen. Sie darf auf keinen Fall aus dem Haus.«
Es dauerte eine Sekunde, bis diese
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