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Blind

Blind

Titel: Blind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joe Hill
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ich noch nie so eine Entzündung gesehen. Hast du das an beiden Händen – oder noch sonst wo?«
    »Nein.«
    Sie fühlte Marybeths Stirn. »Du glühst ja. Mein Gott. Ihr beiden. Du, Schätzchen, kannst dich in meinem Zimmer hinlegen. Justin pack ich zu seinem Vater. Ich hab da schon vor zwei Wochen ein Extrabett reingestellt,damit ich ihn besser im Auge behalten kann. Los, mein Großer. Auf die Beine, Abmarsch.«
    »Wenn ich mich von hier wegrühren soll, dann hol mal lieber die Schubkarre und roll mich rüber«, sagte Jude.
    »Im Zimmer von deinem Vater hab ich Morphium.«
    »Okay, ich komme«, sagte Jude, stützte sich mit der linken Hand auf den Tisch und stemmte sich schwerfällig in die Höhe.
    Marybeth stand auf und fasste ihn am Ellbogen.
    »Du bleibst hier«, sagte Arlene. Sie nickte zu dem Rottweiler und dann zu der Tür dahinter, die in das frühere Nähzimmer führte, das jetzt ein kleines Schlafzimmer war. »Du kannst dich da drin hinlegen. Mit dem hier werde ich schon allein fertig.«
    »Keine Angst«, sagte Jude zu Marybeth. »Arlene schafft mich schon.«
    »Was ist mit Craddock?«, fragte Marybeth.
    Sie stand direkt vor ihm, und Jude beugte sich vor, vergrub sein Gesicht in ihrem Haar und küsste sie oben auf den Kopf.
    »Keine Ahnung«, sagte Jude. »Nichts wäre mir lieber, als wenn du jetzt woanders wärst. Warum bist du nicht abgehauen? Solange noch Zeit war? Warum bist du bloß ein derart störrisches Miststück?«
    »Ich häng jetzt schon seit neun Monaten mit dir rum«, sagte sie, stellte sich auf die Zehenspitzen, schlang ihm die Arme um den Hals und suchte mit den Lippen seinen Mund. »Da bleibt wohl irgendwie was hängen.«
    Und dann blieben sie eine Zeit lang so stehen und wiegten sich gegenseitig in den Armen.
    42
    Als Jude sich von Marybeth löste, nahm Arlene ihn am Arm, drehte ihn um und setzte ihn in Bewegung. Er nahm an, dass sie durch den vorderen Flur und dann die Treppe hinauf in den ersten Stock gehen würden, dass sein Vater im alten Schlafzimmer seiner Eltern lag. Stattdessen ging sie mit ihm in den Flur hinter der Küche, der zu Judes altem Zimmer führte.
    Richtig, sein Vater war hier unten. Jude erinnerte sich vage daran, dass Arlene ihm einmal bei einem ihrer wenigen Telefonate erzählt hatte, dass sie Martin in Judes altes Zimmer umquartiert hatte, damit sie nicht immer nach oben gehen musste, wenn sie nach ihm sehen wollte.
    Jude drehte sich zu Marybeth um. Sie stand in der Tür zu Arlenes Zimmer und schaute ihm mit fiebrig leuchtenden, erschöpften Augen hinterher, bis er und Arlene im hinteren Flur verschwanden. Der Gedanke, im Haus seines Vaters, in diesem dunklen, vermoderten Labyrinth so weit von ihr entfernt zu sein, gefiel ihm gar nicht. Der Gedanke, dass sie vielleicht nie wieder zueinanderfinden würden, erschien ihm ganz und gar nicht abwegig.
    Der Flur, der zu seinem Zimmer führte, war schmal, und das Holz der Wände war deutlich sichtbar verzogen. Sie gingen an einer zugenagelten Gittertür vorbei, deren rostiges Maschengeflecht sich in einen verdreckten Schweinstall wölbte. Die drei mittelgroßen Schweine beäugten sie. Ihre eingedrückten Gesichter sahen gutmütig und weise aus.
    »Er hat immer noch Schweine?«, fragte Jude. »Wer kümmert sich um die?«
    »Dreimal darfst du raten.«
    »Warum verkaufst du sie nicht?«
    Sie zuckte mit den Achseln und sagte dann: »Dein Vater hat sein ganzes Leben lang Schweine gehabt. Er kann sie von da drin hören, von seinem Bett aus. Schätze, ich hab sie behalten, weil ich gedacht hab, dass er auf diese Weise nicht vergisst, wo er ist. Und wer er ist.« Sie schaute Jude ins Gesicht. »Findest du das albern?«
    »Nein«, sagte Jude.
    Arlene drückte sachte die Tür zu Judes altem Zimmer nach innen. Die stickig warme Luft roch so stark nach Menthol, dass Judes Augen zu tränen anfingen.
    »Einen Moment«, sagte Arlene. »Ich räume eben das Nähzeug weg.«
    Er blieb an den Türpfosten gelehnt stehen, während sie zu dem schmalen Bett ging, das links an der Wand stand. An der Wand gegenüber stand das gleiche Bett noch einmal. In dem lag sein Vater.
    Martin Cowzynskis Augen waren schmale Schlitze, durch die seine Augäpfel nur als glasige Splitter zu erkennen waren. Der Mund stand weit offen. Die Hände waren knochige Klauen, die nach innen gebogen auf seiner Brust lagen. Die Fingernägel sahen aus wie spitze gelbe Buckel. Er war schon immer schlank und drahtig gewesen, hatte aber noch mal, so Judes Schätzung, ein Drittel

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