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Blind

Blind

Titel: Blind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joe Hill
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Kette hin und her.
    Du wirst ihr die Kehle durchschneiden. Und sie wird froh drüber sein. Weil sie's dann endlich hinter sich hat. Du hättest dich eben von meinen kleinen Mädchen fernhalten sollen, Jude.
    Jude drehte den Türknauf, Marybeth drückte mit der Schulter gegen das Holz, und dann stolperten sie in die dunkle Diele. Mit dem Fuß stieß Marybeth die Tür hinter sich zu, und Jude lugte durch ein Fenster nach draußen. Der Pick-up war verschwunden, der Mustang stand allein in der Einfahrt. Marybeth drehte ihn wieder um und schob ihn weiter.
    Sich gegenseitig stützend, bewegten sie sich Seite an Seite durch den Flur. Marybeth blieb mit der Hüfte an einem Wandtischchen hängen, das krachend umfiel. Das Telefon, das darauf gestanden hatte, knallte auf den Boden, der Hörer flog von der Gabel.
    Am Ende des Flurs befand sich die Tür zur Küche, in der noch Licht brannte. Es war das erste Licht, das sie im Haus sahen. Von außen waren alle Fenster dunkel gewesen, und als sie das Haus betreten hatten, hatten sie im Halbdunkel des Flurs gestanden und nur das düstere Loch oben an der Treppe gesehen.
    Eine alte Frau, die eine pastellfarbene Blumendruckbluse trug, erschien in der Küchentür. Sie hatte gekräuseltes weißes Haar, und hinter den Brillengläsern sahen ihre verwunderten blauen Augen so groß aus wie die einer Comicfigur. Jude erkannte Arlene Wade auf den ersten Blick, obwohl er nicht hätte sagen können, wann er sie zuletzt gesehen hatte. Wann das auch gewesen war, sie sah aus, wie sie schon immer ausgesehen hatte – knochig, alt, mit dem immer gleichen erstaunten Blick.
    »Was ist denn hier los?«, rief sie laut. Sie hob die rechte Hand und umfasste das Kreuz, das an ihrem Hals hing. Als Marybeth und Jude die Tür erreichten, trat sie zur Seite, um sie vorbeizulassen. »Mein Gott, Justin! Maria und Josef, was ist denn mit dir passiert?«
    Die Küche war gelb. Gelbes Linoleum, gelb geflieste Küchentheke, gelb-weiß karierte Vorhänge, im Abtropfgestell neben dem Spülbecken Teller mit Gänseblümchenmuster. Während Jude dieses Bild in sich aufnahm, hörte er in seinem Kopf die Melodie eines schon ein paar Jahre alten Monsterhits von Coldplay, in dem es darum ging, dass alles gelb war.
    Nach dem Eindruck, den das Haus von außen gemacht hatte, war er überrascht, dass die Küche so ordentlich, so frisch und farbig war. In seiner Kindheitwar sie nie so gemütlich gewesen. Seine Mutter hatte fast immer in der Küche gesessen, hatte sich pausenlos das stumpfsinnige Tagesprogramm im Fernsehen angeschaut und dabei Kartoffeln geschält oder Bohnen gewaschen. Ihr abgestumpftes, gefühlsleeres Gemüt hatte der Küche die Farbe genommen und in einen Raum verwandelt, in dem er immer das Gefühl gehabt hatte, nur ganz leise sprechen zu dürfen, wenn überhaupt. Die Küche war ihr persönlicher, freudloser Bereich gewesen, da durfte man genauso wenig einfach so durchlaufen, wie man in einer Leichenhalle eine Schlägerei anzettelte.
    Aber seine Mutter war schon seit dreißig Jahren tot, und die Küche war jetzt die von Arlene Wade. Sie lebte seit über einem Jahr im Haus, verbrachte wahrscheinlich die meiste Zeit in diesem Raum und wärmte ihn mit den alltäglichen Beschäftigungen einer alten Frau: Telefongespräche mit Freunden, Kuchenbacken für Verwandte, die Pflege eines sterbenden Mannes. Es war Jude sogar ein bisschen zu gemütlich. Die Wärme und die plötzlich stickige Luft machten ihn benommen. Marybeth drehte ihn zum Küchentisch um. Er spürte, wie eine knochige, klauenartige Hand – Arlenes Hand – seinen Arm umfasste, und war überrascht, welch unnachgiebige Kraft in ihren Fingern steckte.
    »Was soll der Strumpf an deiner Hand?«, fragte sie.
    »Ein Finger ist abgerissen«, sagte Marybeth.
    »Was wollt ihr dann hier?«, fragte Arlene. »Warum ist er dann nicht im Krankenhaus.«
    Jude ließ sich auf einen Stuhl fallen. Seltsam, sogar jetzt noch, während er regungslos dasaß, hatte er das Gefühl, sich zu bewegen. Die Küchenwände schwebten langsam an ihm vorbei, und der Stuhl glitt nach vorn, als säße er in einem Geisterbahnwagen: Mr Jude's Wild Ride. Marybeth sank auf den Stuhl neben Jude und stieß ihn dabei mit den Knien an. Sie zitterte. Ihr Gesicht warin öligen Schweiß gebadet, die Haare waren ein zotteliges, zerzaustes Chaos. Nasse Strähnen klebten an den Schläfen, auf den Wangen, im Nacken.
    »Wo sind die Hunde?«, fragte Marybeth.
    Arlene wickelte den Strumpf von Judes

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