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Blind

Blind

Titel: Blind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joe Hill
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berührte fast die Brust, ein alter Mann, der in der Morgensonne eingedöst war. Nichts wünschte sich Jude mehr, als dass er so blieb, dass er sich nicht rührte, nicht aufwachte, nicht die Augen öffnete – bitte, nicht die Augen öffnen.
    Sie kamen näher, und Georgia schaute immer noch nicht nach vorn. Stattdessen legte sie gähnend den Kopf an Judes Schulter und schloss die Augen. »Und, erzählst du mir jetzt, warum du das Studio zerlegen musstest? Hast du eigentlich da drin irgendwas gerufen? Ich dachte, ich hätte deine Stimme gehört.«
    Er wollte nicht noch einmal hinschauen, konnte aber nicht anders. Der Geist saß unverändert da. Den Kopf zur Seite geneigt, mit einem leichten Lächeln auf den Lippen, als dächte er gerade über etwas Angenehmes nach oder träumte einen schönen Traum. Der tote Mann schien sie, Georgia, nicht zu hören. Jude kam ein Gedanke, unfertig, schwierig in Worte zu fassen. So wie der Geist mit geschlossenen Augen und geneigtemKopf dasaß, schien er nicht zu schlafen, sondern vielmehr auf etwas zu lauschen. Auf seine Worte, dachte Jude. Vielleicht wartete er auf die Bestätigung seiner Anwesenheit, bevor er selbst Judes Anwesenheit bestätigen würde (oder konnte). Sie waren jetzt fast auf gleicher Höhe mit ihm, waren im Begriff, an ihm vorbeizugehen, wozu Jude sich eng an Georgia schmiegte, damit er ihn nicht berührte.
    »Von dem Lärm bin ich aufgewacht, und von dem Geruch …« Sie hüstelte leise, hob den Kopf und blinzelte mit verhangenen Augen in Richtung Schlafzimmertür. Sie bemerkte den Geist immer noch nicht, obwohl sie genau in diesem Augenblick an ihm vorbeigingen. Auf einmal blieb sie abrupt stehen und rührte sich nicht mehr von der Stelle. »Ich gehe da erst wieder rein, wenn der Anzug weg ist.«
    Er fuhr mit der Hand an ihrem Arm hinunter, drückte ihr Handgelenk und zog sie sanft weiter. Sie sträubte sich und protestierte leise, weil er ihr wehtat.
    »Scheiße, was soll das?«
    »Geh weiter«, sagte er, und schon im nächsten Augenblick spürte er sein kläglich pochendes Herz. Er hatte gesprochen.
    Er schaute den Geist an, der in der gleichen Sekunde den Kopf hob und die Augenlider nach oben klappte. Doch anstelle der Augen kamen nur schwarz bekritzelte Flecken zum Vorschein. Als hätte ein Kind einen Magic Marker genommen – einen im Wortsinne magischen Stift, mit dem man die Luft bemalen konnte – und verzweifelt versucht, die Augen schwarz anzumalen. Die verschlungenen und verhedderten schwarzen Linien sahen aus wie ein Knäuel verknoteter Würmer.
    Dann war Jude an ihm vorbei, die quengelnde, widerspenstige Georgia mit sich ziehend. Als sie die Schlafzimmertür erreicht hatten, schaute er sich um.
    Der Geist stand auf, und während er aufstand, nahmenseine aus dem Sonnenlicht auftauchenden Beine, die langen schwarzen Hosenbeine mit den scharfen Bügelfalten, wieder Gestalt an. Der tote Mann streckte den rechten Arm zur Seite, und aus der nach unten gewandten Handfläche ließ er etwas fallen, einen flachen, wie ein blank polierter Spiegel funkelnden Silberanhänger, der an einer zierlichen Goldkette hing. Nein, es war kein Anhänger, sondern eine Art gekrümmte Klinge. Sie ähnelte einer Puppenhausversion des Pendels aus jener Geschichte von Edgar Allan Poe. Die Goldkette hing an einem Ring, der an einem seiner Finger steckte, einem Ehering, und das Rasiermesser war das, was er geheiratet hatte. Er ließ Jude einen kurzen Blick darauf werfen und katapultierte dann mit einer ruckartigen Bewegung seines Handgelenks – wie ein Kind, das ein Jo-Jo hochschnellen ließ – die kleine gekrümmte Klinge in seine Hand.
    Jude spürte, wie in seiner Brust ein Stöhnen mit aller Macht nach oben drängte. Er schob Georgia durch die Tür ins Schlafzimmer und knallte die Tür zu.
    »Was soll der Scheiß?«, schrie Georgia, die sich nun endgültig von ihm losriss und einen Schritt zurückstolperte.
    »Halt den Mund.«
    Sie schlug ihm mit der linken Hand gegen die Schulter und dann mit der rechten – der mit dem entzündeten Daumen – auf den Rücken. Das tat ihr mehr weh als ihm. Sie schrie auf, keuchend, kränklich, und ließ von ihm ab.
    Er hielt immer noch den Türknauf in der Hand. Er lauschte. Alles war ruhig.
    Jude öffnete langsam die Tür und lugte durch den handbreiten Spalt. Er war darauf gefasst, beim Anblick des toten Mannes die Tür sofort wieder zuzuschlagen.
    Aber der Flur war leer.
    Er schloss die Augen, schloss dann die Tür, legte dieStirn dagegen,

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