Blind
Erklärung dafür parat, ihn zu behalten. »Wir können ihn nicht verbrennen. Er ist Beweismaterial. Vielleicht verklage ich die Frau, dann will ihn mein Anwalt sicher haben.«
Georgia lachte dünn und mitleidig. »Verklagen? Weshalb? Angriff mit einem tödlichen Geist?«
»Belästigung vielleicht. Oder Stalking. Das ist eine Todesdrohung, auch wenn sie ziemlich durchgeknallt ist. Da gibt's Gesetze.«
Er legte den Anzug fertig zusammen und verstaute ihn in seinem Bett aus Seidenpapier. Während er das tat, atmete er durch den Mund und hielt den Kopf zur Seite gewandt.
»Das ganze Zimmer stinkt«, sagte Georgia. »Von mir aus schimpf mich Waschlappen, aber ich glaube, ich muss gleich kotzen.«
Er schaute sie von der Seite an. Geistesabwesend drückte sie die rechte Hand fest gegen die Brust und starrte mit leerem Gesichtsausdruck auf die schwarz glänzende herzförmige Schachtel. Bis vor ein paar Sekunden hatte die Hand unsichtbar unter der Achsel gesteckt. Der Daumen war geschwollen, und der weiße Punkt, wo die Nadel ins Fleisch eingedrungen war, hatte sich inzwischen zu einer eitrig glänzenden Wunde von der Größe einer Bleistiftradierspitze entwickelt. Sie sah, dass er auf den Daumen schaute, warf selbst einen kurzen Blick darauf, hob wieder den Kopf und lächelte kläglich.
»Ganz schön entzündet.«
»Ich weiß. Ich hab Wundspray draufgesprüht.«
»Vielleicht sollte sich das mal jemand anschauen. Wenn es Tetanus ist, nutzt Wundspray auch nichts.«
Sie legte die Finger der anderen Hand um den Daumen und drückte sanft. »Was, wenn die Nadel in dem Anzug vergiftet war?«
»Bei Blausäure wüssten wir das jetzt schon.«
»Und Milzbrand?«
»Ich habe mit der Frau gesprochen. Sie ist zwar eine dumme Provinzgans, ganz zu schweigen davon, dass sie sich mal dringend ein paar erstklassige Psychopharmakaeinwerfen müsste, aber ich glaube nicht, dass sie mir irgendwas Vergiftetes schicken würde. Dafür würde sie in den Knast wandern, und das weiß sie auch.« Er nahm Georgias Handgelenk, zog die Hand zu sich heran und begutachtete den Daumen. Die Haut um den Infektionsherd war weich und verfault und so schrumpelig, als wäre sie lange Zeit in Wasser eingeweicht worden.
»Weißt du was? Du setzt dich jetzt vor den Fernseher, und ich sage Danny, dass er dir einen Termin beim Arzt machen soll.«
Er ließ ihr Handgelenk los und nickte in Richtung Tür, aber sie rührte sich nicht.
»Kannst du nachschauen, ob er noch im Flur ist?«, fragte sie.
Er sah sie kurz an, nickte dann und ging zur Tür. Er machte sie eine Handbreit auf und schaute nach draußen. Die Sonne hatte sich entweder weiterbewegt oder wurde von einer Wolke verdeckt, jedenfalls lag der Flur in kühlem Schatten. Niemand saß auf dem Shaker-Stuhl an der Wand, niemand stand mit einem Rasiermesser an einer Kette in einer Ecke.
»Alles klar.«
Sie berührte ihn mit der gesunden Hand an der Schulter. »Als Kind hab ich einmal einen Geist gesehen.«
Jude überraschte das nicht. Er hatte noch kein Goth-Girl getroffen, das nicht auf irgendeine Art mit dem Übernatürlichen aneinandergeraten war, das nicht mit vollem, peinlichem Ernst an Astralformen oder Engel oder wiccanische Zauberkräfte glaubte.
»Damals habe ich bei Bammy gelebt, meiner Großmutter. Das war, gleich nachdem mich mein Vater das erste Mal rausgeschmissen hat. Ich bin nachmittags in die Küche gegangen, um mir ein Glas von ihrer Limonade zu holen. Sie macht wunderbare Limonade. Und da hab ich hinten aus dem Fenster geschaut und imGarten dieses Mädchen gesehen. Sie hat Pusteblumen gepflückt und draufgeblasen, damit die Samen wegfliegen, wie es Kinder eben so machen, und sie hat dabei gesungen. Sie war ein paar Jahre jünger als ich und hatte ein wirklich schäbiges Kleid an. Ich hab das Fenster hochgeschoben und wollte sie fragen, was sie da draußen in unserem Garten macht. Als sie das Fensterknarzen gehört hat, hat sie den Kopf gehoben und mich angeschaut, und ich hab sofort gewusst, dass sie tot ist. Sie hatte so komisch kaputte Augen.«
»Was meinst du damit, komisch kaputt?«, fragte Jude. Die Haut auf seinen Unterarmen spannte sich, er bekam eine Gänsehaut.
»Die Augen waren schwarz. Nein, eigentlich waren es gar keine richtigen Augen. Sie waren … als wenn sie irgendwie übermalt gewesen wären.«
»Übermalt«, wiederholte Jude.
»Ja. Durchgestrichen. Mit schwarzer Farbe. Dann hat sie den Kopf umgedreht, und es hat so ausgesehen, als würde sie über den Zaun
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