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Blind

Blind

Titel: Blind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joe Hill
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blieb in der Tür stehen. Shannon stand vor dem Fernseher und beobachtete, wie ein Mann ein nacktes Mädchen im Teenageralter mit einer durchsichtigen Plastiktüte erstickte, während andere Männer dabei zuschauten.
    Shannon sah sich mit konzentriert gerunzelter Stirn an, wie das Mädchen starb. Wenn sie wütend wurde, brauchte Jude sich keine Sorgen zu machen, das konnte ihn nicht beeindrucken. Aber er hatte gelernt, auf der Hut zu sein, wenn sie so war wie jetzt, ruhig, stumm, ganz in sich zurückgezogen.
    Schließlich sagte sie: »Ist das echt?«
    »Ja.«
    »Sie stirbt wirklich?«
    Er schaute auf den Bildschirm. Das Mädchen lag schlaff und zusammengesackt auf dem Fußboden. »Sie ist wirklich tot. Ihren Freund haben sie auch umgebracht, oder?«
    »Er hat gebettelt.«
    »Das Band habe ich von einem Polizisten. Er hat mir erzählt, dass die beiden aus Texas waren. Junkies. Bei einem Überfall auf einen Schnapsladen haben sie jemanden erschossen und sind dann nach Tijuana abgehauen. Die Bullen haben wirklich eine kranke Scheiße bei sich rumliegen.«
    »Er hat um ihr Leben gebettelt.«
    »Grauenhaft«, sagte Jude. »Ich weiß wirklich nicht, warum ich das noch habe.«
    »Ich auch nicht«, sagte sie. Sie stand auf, nahm die Kassette aus dem Rekorder und schaute sie an, als hätte sie noch nie zuvor ein Videoband gesehen, als fragte sie sich, wozu das Ding wohl gut war.
    »Alles in Ordnung?«, fragte Jude.
    »Ich weiß nicht«, sagte sie. Sie wandte sich um und schaute ihn mit glasigen, verwirrten Augen an. »Und du?«
    Als er ihr nicht antwortete, ging sie quer durch den Raum und drückte sich an ihm vorbei. An der Tür merkte sie, dass sie das Band noch in der Hand hielt. Sie blieb stehen, ging zurück, legte es vorsichtig aufs Regal und verließ dann den Raum. Später hatte die Putzfrau die Kassette einfach zwischen die Bücher gestellt. Jude war es egal gewesen, dass sie am falschen Platz stand, und kurz danach hatte er schon vergessen, dass sie überhaupt noch da war.
    Er musste sich über andere Dinge den Kopf zerbrechen. Als er aus New York zurückkehrte, war Shannon weg und ihre Seite des Wandschranks ausgeräumt. Sie hatte sich nicht die Mühe gemacht, eine Nachricht zu hinterlassen, keinen letzten Brief, in dem sie ihm mitteilte, dass ihre Liebe ein Irrtum gewesen sei oder dass es den Jude, den sie geliebt habe, eigentlich nie gegeben habe oder dass sie sich auseinandergelebt hätten. Sie war sechsundvierzig und hatte schon eine Ehe samt Scheidung hinter sich. Girlie-Theatralik war nicht ihre Sache. Wenn sie ihm etwas zu sagen hatte, rief sie an. Wenn sie etwas von ihm brauchte, rief ihr Anwalt an.
    Während er sich jetzt das Band anschaute, wusste er wirklich nicht, warum er es behalten hatte … oder warum es ihn behalten hatte. Er hätte es gleich heraussuchen und wegwerfen sollen, als er damals nach Hause gekommen und Shannon nicht mehr da gewesen war. Er konnte sich nicht einmal mehr daran erinnern, warumer es überhaupt angenommen hatte, außer weil man es ihm angeboten hatte. Jude tastete sich an den unangenehmen Gedanken heran, dass er im Lauf der Zeit immer mehr bereit gewesen war, alles anzunehmen, was man ihm anbot, ohne über die möglichen Konsequenzen nachzudenken. Und was hatte ihm das für Ärger eingebracht! Anna hatte sich ihm angeboten, er hatte angenommen, und jetzt war sie tot. Jessica McDermott Price hatte ihm den Anzug des Toten angeboten, und jetzt war er seiner. Jetzt war er seiner.
    Er hatte sich nie darum gerissen, den Anzug eines toten Mannes oder einen mexikanischen Todesporno oder irgendwas von den anderen Sachen zu besitzen. Er hatte vielmehr den Eindruck, als wäre das alles von ihm angezogen worden wie Eisenspäne von einem Magneten und als könnte er so wenig daran ändern wie der Magnet an seiner Anziehungskraft. Aber das bedeutete Hilflosigkeit, und hilflos war er nie gewesen. Wenn er etwas gegen die Wand knallen sollte, dann dieses Videoband.
    Irgendwie stand er nun schon zu lange in Gedanken hier herum. Die Kälte im Studio setzte ihm zu, er fühlte sich müde, er spürte sein Alter. Es überraschte ihn, dass er seinen Atem nicht sehen konnte, so kalt, wie er sich fühlte. Er konnte sich nichts Idiotischeres – oder Schwächlicheres – vorstellen als einen vierundfünfzig Jahre alten Mann, der in einem Wutanfall seine Bücher gegen die Wand knallte. Wenn es etwas gab, was er verabscheute, dann war es Schwäche. Er wollte das Band fallen lassen und mit den Schuhen

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