Blind
sog tief Luft in die Lunge, hielt die Luft an und blies sie dann langsam wieder aus. Er hob die Hand, um sich den feuchtkalten Schweiß aus dem Gesicht zu wischen. Etwas Eisiges, Scharfes, Hartes schabte leicht über seine Wange. Er öffnete die Augen und sah das gekrümmte Rasiermesser des toten Mannes in seiner Hand. In der stahlblauen Klinge spiegelten sich seine geweiteten Augen.
Jude schrie auf, ließ das Messer fallen und schaute auf den Boden. Aber da war es schon nicht mehr da.
11
Er ging von der Tür weg. Das einzige Geräusch im Zimmer war angespanntes Atmen, sein eigenes und das von Marybeth. In diesem Augenblick war sie Marybeth. Ihm fiel nicht ein, wie er sie sonst nannte.
»Was für ein Scheißzeug hast du dir da eingeworfen?«, fragte sie. In ihrer Stimme klang ein Hauch Hillbilly durch, schwach, aber eindeutig Südstaaten.
»Georgia.« Der Name war wieder da. »Nichts. Ich könnte nicht klarer im Kopf sein.«
»Ach, Scheiße. Was ist es?« Der feine, kaum hörbare Akzent war wieder weg. So plötzlich er aufgeschienen war, so schnell war er auch wieder verschwunden. Georgia hatte ein paar Jahre in New York gelebt, wo sie sich bewusst angestrengt hatte, ihren Akzent loszuwerden. Sie wollte nicht als Landei aus dem Süden erkannt werden.
»Ich hab dir doch gesagt, dass ich mit der ganzen Scheiße schon vor Jahren aufgehört habe.«
»Was war da im Flur? Du hast da was gesehen. Was war das?«
Er warf ihr einen warnenden Blick zu, den sie aber ignorierte. Sie stand im Pyjama vor ihm, die Arme unter den Brüsten verschränkt, die Hände unter die Achseln geklemmt. Die Beine hatte sie leicht gespreizt, als wollte sie ihm den Weg verstellen, wenn er Anstalten machte, sich an ihr vorbeizudrücken … eine absurde Vorstellung angesichts der Tatsache, dass sie gut einen Zentner weniger wog als er.
»Da hat ein alter Mann im Flur gesessen. Auf demStuhl«, sagte er schließlich. Irgendetwas musste er ihr sagen, warum nicht die Wahrheit. Ihre Meinung über seinen Geisteszustand war ihm gleichgültig. »Du hast ihn nicht gesehen, aber wir sind direkt an ihm vorbeigegangen. Keine Ahnung, ob du ihn überhaupt sehen kannst.«
»Das ist doch kranke Affenscheiße.« Ihre Stimme klang nicht hundertprozentig überzeugt.
Er machte einen Schritt in Richtung Bett, und sie trat zur Seite und drückte sich an die Wand.
Der ordentlich ausgebreitete Anzug des toten Mannes nahm seine Seite der Matratze ein. Die hohe herzförmige Schachtel, aus der weißes Seidenpapier heraushing, lag auf dem Boden, der schwarze Deckel daneben. Als er noch vier Schritte vom Bett entfernt war, stieg ihm ein Geruch in die Nase, der ihn zurückzucken ließ. Als er das Paket geöffnet hatte, war dieser Geruch noch nicht da gewesen, das hätte er bemerkt. Jetzt war es unmöglich, ihn nicht zu bemerken. Es war der beißende Geruch von Verwesung, von etwas Totem, Verrottetem.
»Gott«, sagte Jude.
Georgia stand etwas weiter weg und hielt sich die Hand über Mund und Nase. »Vielleicht hat er irgendwas in den Taschen. Irgendwas Fauliges. Altes Essen oder so.«
Jude atmete durch den Mund, während er die Taschen abklopfte. Er war sich fast sicher, irgendetwas darin zu finden, was sich im Stadium fortgeschrittener Verwesung befand. Es hätte ihn nicht überrascht, wenn ihm Jessica McDermott Price als kleines kostenloses Extra zu seiner Neuerwerbung eine tote Ratte in den Anzug gestopft hätte. Stattdessen fühlte er in einer der Taschen nur etwas steifes Viereckiges, das vielleicht aus Plastik war. Er zog es heraus.
Es war ein Foto, das er gut kannte, Annas Lieblingsbild von ihnen beiden. Als sie ausgezogen war, hatte siees mitgenommen. Danny hatte es an einem Nachmittag Ende August gemacht. Die Sonne tauchte die Vorderveranda in ein rötliches, weiches Licht, Libellen schwirrten herum, glitzernde Sonnenstäubchen hingen in der Luft. Jude und Anna saßen nebeneinander auf den Stufen. Er trug eine verwaschene Jeansjacke und spielte auf seiner Dobro, die er mit einem Knie abstützte. Sie hatte die Hände zwischen die Oberschenkel gesteckt und schaute ihm zu. Vor ihnen auf dem Boden lagen die Hunde und blickten fragend in die Kamera.
Es war ein schöner Nachmittag gewesen, vielleicht einer der letzten schönen Nachmittage, bevor es mit ihnen bergab ging. Trotzdem war es nicht angenehm, das Foto zu betrachten. Jemand hatte sich mit einem schwarzen Filzstift daran zu schaffen gemacht. Eine zornige Hand hatte Judes Augen vollkommen
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