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Blind

Blind

Titel: Blind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joe Hill
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ausgelöscht.
    »Wie hat er ausgesehen? Der Geist im Flur, meine ich.« Georgia stand hinter ihm, ihre Stimme klang schüchtern und unsicher.
    Jude hatte ihr den Rücken zugewandt, sodass sie das Foto nicht sehen konnte. Glücklicherweise. Er wollte nicht, dass sie es sah.
    Er musste sich zusammenreißen, um sprechen zu können. Es fiel ihm schwer, den Schock des Fotos, des schwarzen Gekritzels, das seine Augen ausgelöscht hatte, zu verkraften. »Wie ein alter Mann«, brachte er schließlich heraus. »Er hat den Anzug hier angehabt.«
    Und dann war da noch dieses grässliche schwarze Gekritzel, das vor seinen Augen geflimmert hat – so wie hier, fuhr Jude im Geiste fort, wobei er sich umdrehte und ihr das Foto zeigte. Aber das tat er nicht.
    »Er hat einfach nur dagesessen?«, fragte Georgia. »Sonst war nichts?«
    »Er ist aufgestanden und hat mir ein Rasiermesser gezeigt, das an einer Kette hing. Eine komische kleine Klinge.«
    An dem Tag, als Danny das Foto gemacht hatte, war Anna noch ganz bei sich gewesen. Jude hatte geglaubt, sie wäre glücklich gewesen. Fast den ganzen Spätsommernachmittag hatte Jude unter seinem Mustang gelegen. Anna war immer in seiner Nähe gewesen. Sie war unter den Wagen gekrochen und hatte ihm Werkzeuge und Ersatzteile gereicht. Auf dem Foto hatte sie schmutzige Hände und Knie und am Kinn etwas verschmiertes Motoröl – jene Art von anziehendem, wohlverdientem Schmutz, auf den man stolz sein konnte. Die Augenbrauen waren zusammengezogen, dazwischen war ein hübsches Grübchen, und ihr Mund stand offen, als ob sie lachte … oder, was wahrscheinlicher war, ihm eine Frage stellte. Bist du früher oft am Lake Pontchartrain angeln gewesen? Wer war der beste Hund, den du je gehabt hast? Sie und ihre Fragen.
    Aber als es aus war und er Anna weggeschickt hatte, da hatte sie ihn nicht gefragt, warum. Auch nicht nach jenem Abend, als er sie am Highway aufgelesen hatte. Lediglich mit einem T-Shirt bekleidet, hatte sie am Straßenrand gestanden, und die Autofahrer waren hupend vorbeigerauscht. Er hatte sie in den Wagen gezogen und schon ausgeholt, um sie zu schlagen, hatte dann aber stattdessen auf das Lenkrad eingedroschen, bis seine Fingerknöchel angefangen hatten zu bluten. Er hatte gesagt, dass es jetzt reiche, dass er ihren Scheiß zusammenpacken und sie rausschmeißen werde. Anna hatte gesagt, dass sie ohne ihn sterben werde, und er hatte geantwortet, dass er zur Beerdigung Blumen schicke.
    Wenigstens hatte sie Wort gehalten. Er konnte seins nicht mehr halten, dafür war es zu spät.
    »Du verarschst mich doch nicht, Jude, oder?«, fragte Georgia. Ihre Stimme klang scharf. Trotz des Gestanks ging sie langsam auf ihn zu. Bevor sie das Foto sehen konnte, schob er es wieder in die Jackentasche. »Wenn das alles nur ein Witz ist, dann ist das ein Scheißwitz.«
    »Das ist kein Witz. Schon möglich, dass ich den Verstand verliere, glaube ich aber eher nicht. Die Frau, von der ich den Anzug gekauft habe, hat genau gewusst, was sie tut. Ihre kleine Schwester war ein Fan, der Selbstmord begangen hat. Und mir gibt sie die Schuld dafür. Hat sie mir selbst gesagt, erst vor einer Stunde habe ich mit ihr telefoniert. Wenigstens etwas, was ich mir ganz sicher nicht einbilde. Danny war dabei, er hat gehört, wie ich mit ihr gesprochen habe. Sie will sich rächen. Deshalb hat sie mir den Geist geschickt. Und den habe ich eben im Flur gesehen. Das erste Mal habe ich ihn letzte Nacht gesehen.«
    Er machte sich daran, den Anzug zusammenzulegen, um ihn wieder in die Schachtel zu packen.
    »Verbrenn ihn«, sagte Georgia mit einer Heftigkeit, die ihn überraschte. »Schaff den Scheißanzug nach draußen und verbrenne ihn.«
    Einen Augenblick lang verspürte Jude den überwältigenden Drang, genau das zu tun. Raus in die Einfahrt, Feuerzeugbenzin drüber, abfackeln. Aber noch im gleichen Moment misstraute er diesem Impuls, schreckte davor zurück, etwas Unwiderrufliches zu tun. Konnte man wissen, welche Brücken er damit gleich mit abfackelte? Verschwommen dämmerte ihm ein Gedanke, der mit dem grässlich stinkenden Anzug und damit zu tun hatte, wie er noch von Nutzen sein könnte, doch dann, bevor er ihn festhalten konnte, verflüchtigte er sich wieder. Er war müde. Er war kaum noch in der Lage, einen klaren Gedanken zu fassen.
    Seine Gründe, warum er den Anzug behalten wollte, kamen ihm selbst unlogisch, abergläubisch und unklar vor, aber als er ihr antwortete, hatte er eine absolut vernünftige

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