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Blind

Blind

Titel: Blind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joe Hill
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schauen. Im nächsten Augenblick ist sie aufgesprungen und im Garten herumgegangen. Ihre Lippen haben sich bewegt, wie wenn sie mit jemandem spricht, nur dass da keiner war, und gehört hab ich auch nichts von dem, was sie gesagt hat. Als sie die Pusteblumen gepflückt und dabei gesungen hat, das habe ich gehört, aber nicht, was sie beim Rumgehen im Garten gesagt hat, als es so ausgesehen hat, als würde sie mit jemandem sprechen. Dass ich nur ihr Singen hören konnte, da musste ich immer dran denken, das war echt merkwürdig. Und dann hat sie die Hand ausgestreckt, als würde vor ihr, genau auf der anderen Seite vom Gartenzaun, eine unsichtbare Person stehen, der sie die Hand gibt.
    Und plötzlich hab ich es mit der Angst bekommen, hab richtig angefangen zu zittern, weil ich gewusst hab, dass ihr irgendwas Schlimmes zustößt. Ich wollteihr zurufen, dass sie die Hand loslassen soll. Egal, wer das war, ich wollte einfach, dass sie von dem wegkommt. Aber ich hatte zu viel Angst. Ich hab einfach kein Wort rausgebracht. Und dann hat das Mädchen noch einmal zu mir hergeschaut, irgendwie traurig, mit den durchgestrichenen Augen, und dann haben sich ihre Füße vom Boden gelöst, und sie ist über den Zaun drüber geschwebt – ich schwor's, ehrlich. Nicht als ob sie fliegt. Sondern mehr, wie wenn unsichtbare Hände sie hochgehoben hätten. Die Füße haben so komisch in der Luft gebaumelt und sind gegen die Zaunlatten gerumst. Und dann war sie auf der anderen Seite und weg. Ich hab einen Schwächeanfall bekommen und musste mich auf den Boden setzen.«
    Georgia warf Jude einen schnellen Blick zu. Anscheinend wollte sie sich vergewissern, dass er sie nicht für übergeschnappt hielt. Jude nickte ihr aufmunternd zu, dass sie fortfahren solle.
    »Dann ist Bammy in die Küche gekommen. Sie hat einen Schrei losgelassen und gefragt, was passiert ist. Als ich ihr dann die ganze Geschichte erzählt hatte, war sie richtig fertig. Sie hat angefangen zu weinen, hat sich neben mich auf den Boden gesetzt und gesagt, dass sie mir glaubt. Sie hat gesagt, ich hätte ihre Zwillingsschwester Ruth gesehen.
    Ich hatte von Ruth gehört. Sie war gestorben, als Bammy noch ein Kind war. Aber erst an dem Tag hat mir Bammy erzählt, was ihr wirklich zugestoßen war. Ich hatte immer gedacht, dass ein Auto sie überfahren hätte oder so was, aber es war ganz anders. Einmal, da waren die beiden sieben oder acht, das war irgendwann in den Fünfzigern, hat ihre Mutter sie zum Mittagessen ins Haus gerufen. Bammy ist reingegangen, aber Ruth ist draußen geblieben. Sie wollte nichts essen, außerdem war sie einfach von Natur aus aufsässig. Während Bammy und die Familie also im Haus waren, hat irgendwerRuth aus dem Garten entführt. Keiner hat sie je wiedergesehen. Außer dass hin und wieder jemand sie in Bammys Garten sieht, wie sie in Pusteblumen pustet und vor sich hin singt und dann von irgendwem, der gar nicht da ist, mitgenommen wird. Meine Mutter hat Ruths Geist gesehen, Bammys Mann hat ihn auch mal gesehen, ein paar von Bammys Freunden und Bammy selbst.
    Und alle haben sich genauso verhalten wie ich. Alle wollten ihr zurufen, dass sie dableiben soll, dass sie von dem Was-auch-immer auf der anderen Seite des Zauns wegbleiben soll. Aber alle kriegen plötzlich solche Angst, dass sie kein Wort rausbringen. Und Bammy glaubt, das hat sie mir an dem Tag erzählt, dass das alles erst dann zu Ende ist, wenn jemand seine Stimme findet und sie ansprechen kann, dass Ruth in einer Art Traum festsitzt, in dem sie immer wieder ihre letzten Minuten wiederholt, und dass das so lange weitergeht, bis jemand sie ruft und aufweckt.«
    Georgia schluckte und verstummte. Sie senkte den Kopf, sodass ihre Augen unter den dunklen Haaren verschwanden.
    »Ich kann nicht glauben, dass die Toten uns schaden wollen«, sagte sie schließlich. »Sie brauchen doch unsere Hilfe, oder nicht? Brauchen sie nicht immer unsere Hilfe? Wenn du ihn noch mal siehst, dann versuch mit ihm zu reden. Finde raus, was er will.«
    Jude glaubte nicht, dass das eine Frage des Wenn war, sondern nur des Wann. Und was der tote Mann wollte, das wusste er ohnehin schon.
    »Der ist nicht zum Plaudern gekommen«, sagte Jude.
    12
    Jude wusste nicht recht, was er als Nächstes tun sollte, also machte er erst einmal Tee. Die einfachen, automatischen Handgriffe – Wasser in den Kessel füllen, die Kanne vorwärmen, den Tee in das Sieb rieseln lassen, eine Tasse suchen – halfen ihm, wieder einen klaren

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