Blind
keine Rede mehr.
Ihre letzten paar Briefe zeichneten ein genaueres Bild von ihrer psychischen Verfassung. Sie waren auf einfachem, liniertem Papier geschrieben, das sie aus einem Notizbuch herausgerissen hatte, und ihre Schrift war verkrampft, kaum zu entziffern. Anna schrieb, dass sie keine Ruhe finden könne. Ihre Schwester lebte in einer Neubausiedlung, und nebenan wurde gerade ein neues Haus gebaut. Sie schrieb, dass sie den ganzenTag das Hämmern höre und dass sie sich vorkomme, als lebte sie in Pestzeiten neben einem Sargmacher. Wenn sie abends einschlafen wolle, würde das Gehämmer, obwohl nebenan niemand mehr da sei, genau dann wieder losgehen, wenn sie gerade dabei sei einzudösen. Sie versuche verzweifelt, Schlaf zu finden. Ihre Schwester wolle, dass sie sich wegen ihrer Schlaflosigkeit in ärztliche Behandlung begeben solle. Anna wollte über bestimmte Dinge reden, aber sie hatte niemanden zum Reden, und sie hatte es satt, mit sich selbst zu reden. Sie schrieb, dass sie die dauernde Müdigkeit nicht aushalte.
Anna hatte ihn gebeten, sie anzurufen, aber er hatte nicht angerufen. Ihr Elend ging ihm auf die Nerven. Es war zu anstrengend, ihr über ihre Depressionen hinwegzuhelfen. Er hatte es versucht, als sie noch zusammen gewesen waren, aber was er hatte tun können, hatte nicht gereicht. Er hatte sein Bestes getan, es hatte nicht geklappt, und trotzdem ließ sie ihn nicht in Ruhe. Er wusste nicht, warum er ihre Briefe überhaupt noch las, ganz zu schweigen davon, warum er ihr manchmal noch zurückschrieb. Er hatte gehofft, dass sie ihm irgendwann nicht mehr schreiben würde. Was sie schließlich auch nicht mehr getan hatte.
Danny sollte die Briefe für ihn ausgraben und dann einen Arzttermin für Georgia vereinbaren. Kein Riesenplan, aber immerhin mehr als noch vor zehn Minuten, als er noch gar keinen Plan gehabt hatte. Jude schenkte sich einen Tee ein, und die Zeit begann wieder zu ticken.
Er schlenderte mit der Tasse in der Hand ins Büro. Danny saß nicht an seinem Schreibtisch. Jude stand in der Tür, schaute in den leeren Raum und lauschte angestrengt in die Stille auf ein Geräusch von ihm. Nichts. Vielleicht war er ja auf dem Klo. Nein, die Tür war angelehnt, genau wie gestern, und der Spalt war dunkel. Vielleicht war er zum Mittagessen gefahren.
Jude ging in Richtung Fenster, um nachzusehen, ob Dannys Wagen in der Einfahrt stand, hielt dann jedoch inne und warf einen Blick auf Dannys Schreibtisch. Er blätterte durch einen Stapel Papiere und suchte nach Annas Briefen. Wenn Danny sie gefunden hatte, hatte er sie jedenfalls so versteckt, dass Jude sie nicht sah. Er setzte sich auf den Schreibtischsessel und rief den Browser in Dannys Computer auf, um eine Suche nach Annas Stiefvater zu starten. Irgendetwas fand sich über jeden im World Wide Web. Vielleicht hatte der tote Mann ja seinen eigenen MySpace-Account. Jude lachte unterdrückt, hässlich, tief unten im Rachen.
Ihm fiel der Vorname des toten Mannes nicht ein, also startete er seine Suche mit der Wortkombination »McDermott Hypnose Tod«. An erster Stelle der Suchergebnisse stand der Link zu einem Nachruf für einen gewissen Craddock James McDermott. Der Artikel war im Sommer zuvor im Pensacola News Journal erschienen. Richtig, das war er: Craddock.
Jude klickte den Link an – und da war er!
Der Mann auf dem Schwarz-Weiß-Foto war eine jüngere Ausgabe des Mannes, den Jude zweimal oben im Flur gesehen hatte. Auf dem Bild sah er aus wie ein tatkräftiger Sechziger mit dem millimeterkurzen soldatischen Bürstenschnitt, den Jude schon kannte. Mit dem langen, pferdeartigen Gesicht, den breiten, dünnen Lippen und den Sommersprossen hatte er eine nicht nur flüchtige Ähnlichkeit mit Charlton Heston. Das Aufwühlendste beim Betrachten des Fotos war, dass der lebendige Craddock Augen hatte wie jeder andere auch. Die klar und offen in die Ewigkeit blickenden Augen erinnerten Jude an die provozierende Selbstsicherheit von Motivationsgurus und evangelikalen Predigern.
Jude las. Als am Dienstag, 10. August, Craddock James McDermott im Haus seiner Tochter in Testament, Florida,an einer Hirnembolie gestorben sei, habe ein forschendes und abenteuerliches, dem Lernen und Lehren gewidmetes Leben sein Ende gefunden. Das einzige Kind eines Predigers einer Pfingstkirche habe als wahrer Sohn des Südens in Savannah, Atlanta, und später in Galveston, Texas, gelebt.
1965 spielte er als Wide Receiver für die Longhorns der University of Texas in
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