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Blind

Blind

Titel: Blind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joe Hill
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Kopf zu bekommen, dehnten die Zeit und bescherten ihm eine Stille, die ihm guttat. Er stand vor dem Herd und lauschte dem Klopfen des Kessels.
    Er war nicht in Panik, eine Erkenntnis, die ihn einigermaßen befriedigte. Er war nicht versucht abzuhauen und bezweifelte, dass das irgendeinen Sinn hätte. Welcher Ort sollte schon besser sein als dieser hier? Jessica Price hatte gesagt, der tote Mann würde jetzt ihm gehören und er würde ihm überallhin folgen. Jude schoss kurz das Bild durch den Kopf, wie er sich in einen Erste-Klasse-Sessel eines Flugzeugs nach Kalifornien fallen ließ, wie er zur Seite schaute und den toten Mann neben sich sitzen sah, vor dessen Augen das schwarze Gekritzel schwebte. Ihn schauderte, und er schüttelte den Gedanken ab. Das Haus war so gut wie jeder andere Platz, um sich gegen den Geist zu wehren … zumindest bis er ein Fleckchen gefunden hatte, das dafür besser geeignet war. Außerdem hasste er es, die Hunde in Pflege zu geben. In den alten Zeiten, als er noch Konzerte gegeben hatte, waren sie immer mit ihm im Tourbus gefahren.
    Und egal, was er zu Georgia gesagt hatte, noch weniger lag ihm daran, die Polizei oder seine Anwältin einzuschalten. Er hatte so eine Ahnung, dass das Schlimmste,was er tun konnte, war, das Gesetz da mit hineinzuziehen. Klage gegen Jessica McDermott Price zu erheben konnte zwar möglicherweise ganz vergnüglich sein, aber wenn er mit ihr abrechnete, hieße das noch lang nicht, dass der tote Mann von der Bildfläche verschwand. Das war ihm klar. Schließlich hatte er jede Menge Horrorfilme gesehen.
    Außerdem ging es ihm zutiefst gegen den Strich, sich von der Polizei aus einer Bredouille helfen zu lassen kein unwesentlicher Punkt. Seine Identität war sein überzeugendstes Werk, sie war die Maschine, die alle seine anderen Erfolge hervorgebracht hatte, alles, was ihm wichtig war und am Herzen lag. Und die würde er bis zum Ende schützen.
    An einen Geist konnte Jude glauben, aber nicht an den schwarzen Mann, an die pure Inkarnation des Bösen. Mit dem toten Mann musste es mehr auf sich haben als schwarze Flecken vor den Augen und ein gekrümmtes Rasiermesser an einer goldenen Kette. Plötzlich fragte er sich, womit Anna sich wohl die Pulsadern aufgeschnitten hatte, und es fiel ihm wieder einmal auf, wie kalt es in der Küche war. So kalt, dass er sich ganz nah an den Kessel stellte, um etwas von dessen abstrahlender Hitze abzubekommen. Jude war plötzlich davon überzeugt, dass sie sich die Pulsadern mit dem Rasiermesser ihres Vaters aufgeschlitzt hatte. Das an dem Pendel, mit dem er entweder verzweifelte Trottel hypnotisiert oder nach Brunnenwasser gesucht hatte. Er fragte sich, was es noch Wichtiges gab, das man über Annas Tod wissen sollte und über den Mann, der ihr ein Vater gewesen war und der ihre Leiche in dem kalten, von ihrem Blut dunklen Badewasser gefunden hatte.
    Vielleicht hatte Danny schon Annas Briefe aufgestöbert. Jude graute davor, sie noch einmal zu lesen, wusste aber, dass er keine andere Wahl hatte. Er erinnertesich noch gut genug an die Briefe, um schon jetzt zu wissen, dass sie versucht hatte ihm mitzuteilen, was sie sich antun würde, und dass er es nicht gemerkt hatte. Nein, es war sogar noch schrecklicher. Er hatte es nicht merken wollen, hatte mit Absicht ignoriert, was direkt vor seiner Nase gewesen war.
    Ihre ersten Briefe von zu Hause hatten einen unbeschwerten Optimismus verströmt. Die Botschaft zwischen den Zeilen lautete, dass sie dabei war, ihr Leben in den Griff zu bekommen und solide, erwachsene Entscheidungen für ihre Zukunft zu treffen. Die Briefe waren in zierlicher Schreibschrift auf schwerem weißem Papier geschrieben. Wie in ihren Gesprächen stellte sie zahllose Fragen, allerdings schien sie nun keine Antworten zu erwarten. Sie schrieb zum Beispiel, dass sie den ganzen Monat Bewerbungsbriefe verschickt habe, und stellte ihm die rhetorische Frage, ob es wohl ein Fehler sei, zum Vorstellungsgespräch bei einer Kindertagesstätte mit schwarzem Lippenstift und in Motorradstiefeln anzutanzen. Sie beschrieb ihm zwei Colleges und ließ sich ausführlich über die Frage aus, welches wohl das bessere für sie sei. Aber es war alles Hochstapelei, und Jude wusste es. Den Job in der Tagesstätte hatte sie nie bekommen, und nach jenem einen Brief verlor sie nie wieder ein Wort darüber. Und als das Frühjahrssemester vor der Tür stand, da hatte sie sich schon um einen Platz an einer Kosmetikschule beworben. Von College

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