Blind
Jude.
»Und?«, sagte Jude.
»Nichts«, sagte sie. Sie legte die rechte Hand auf ihr Brustbein und verzog leicht das Gesicht, als ob sie Schmerzen hätte. »Schaffst du es allein?«
»Geht schon«, sagte er und stieß sich vom Wagen ab. Er spürte einen wachsenden dumpfen Druck hinter den Augäpfeln, einen tiefen, träge pochenden Schmerz, der sich zu einem monströsen Brummschädel auszuwachsen drohte.
Als er die großen Schiebetüren erreichte, blieb er stehen. Zwischen ihm und Georgia stand Angus. Der Matsch in der Einfahrt war gefroren. Jude schaute hinunter zu den offenen Toren seiner Farm. Es klarte auf. Die dickegraue Wolkendecke riss auf, und in unregelmäßigen Abständen schimmerte ein Sonnenstrahl durch die sich auftuenden Risse.
Der tote Mann stand am Straßenrand und schaute ihn an. Er trug seinen schwarzen Filzhut. Er war nur einen Augenblick lang sichtbar, dann verschwand die Sonne hinter einer Wolke, und die Straße lag im Schatten. Als wieder zitternde Sonnenstrahlen an den Rändern der Wolke aufleuchteten, flackerte Craddock weg. Kopf und Hände verschwanden als Erstes, sodass zunächst nur noch der hohle schwarze Anzug am Straßenrand stand. Dann löste sich auch der Anzug auf. Einen Augenblick später, als die Sonne sich wieder hinter ihre Deckung verkroch, kehrte er Stück um Stück zurück.
Er zog den Hut und verbeugte sich vor Jude, eine spöttische Geste, die auf seltsame Weise den Südstaatler erkennen ließ. Die Sonne kam und ging und kam, und der tote Mann blinkte wie ein Morsecode.
»Jude?«, sagte Georgia. Jude merkte, dass er und Angus mit genau dem gleichem Blick die Einfahrt hinunterschauten. »Da ist doch nichts, Jude, oder?«
»Nein«, sagte er. »Gar nichts.«
Der tote Mann nahm zitternd wieder Gestalt an, gerade so lange, dass er Jude zuzwinkern konnte. Dann kam eine sanft rauschende Brise auf, hoch oben zerdehnten sich die Wolken zu Fäden schmutziger Wolle, und die Sonne brach endgültig durch. Kraftvoll schien sie auf die Straße, und der tote Mann war weg.
15
Georgia brachte ihn in die Musikbibliothek im Erdgeschoss. Dass sie ihn an der Taille umfasst hielt, ihn stützte und führte, merkte er erst, als sie ihn losließ. Er sank auf die moosfarbene Couch und war fast in der gleichen Sekunde, als er die Füße hochgelegt hatte, auch schon eingeschlafen.
Er wachte noch einmal kurz auf und sah verschwommen, wie sie sich über ihn beugte und mit einer Wolldecke zudeckte. Ihr Gesicht war eine blasse Scheibe ohne Konturen, nur den dunklen Strich ihres Mundes und die dunklen Löcher, wo ihre Augen sein sollten, nahm er wahr.
Ihm fielen die Augenlider zu. Er konnte sich nicht erinnern, wann er zuletzt so müde gewesen war. Der Schlaf zog ihn beständig nach unten, ertränkte jede Vernunft, jede Empfindung, und während er unterging, sah er undeutlich das Bild von Georgias Gesicht vor sich, und ihm schoss der alarmierende Gedanke durch den Kopf, dass sie keine Augen gehabt hatte, dass sie hinter schwarzem Gekritzel verborgen waren. Georgia war tot, Georgia war eine von den Geistern.
Er kämpfte sich wieder in Richtung Oberfläche, in Richtung Wachzustand, und hätte es für ein paar Augenblicke fast geschafft. Er öffnete die Augen einen winzigen Spalt. Georgia stand in der Tür der Musikbibliothek und beobachtete ihn. Ihre kleinen weißen Hände waren zu kleinen weißen Fäusten geballt, und ihre Augen waren ihre eigenen. Bei ihrem Anblick fühlte er sich einen Moment lang wunderbar erleichtert.
Dann sah er hinter ihr im Flur den toten Mann stehen. Seine Gesichtshaut spannte sich straff über die Buckel seiner Backenknochen, und er grinste und zeigte ihm seine nikotinfleckigen Zähne.
Craddock McDermotts Bewegungen sahen aus wie in einem Stop-Motion-Trickfilm, wie eine Serie von lebensgroßen Einzelaufnahmen. In einer Sekunde hingen die Arme am Körper herunter, in der nächsten lag eine seiner hageren Hände auf Georgias Schulter. Seine Fingernägel waren gelb und lang und vorn gebogen. Vor seinen Augen hüpften und zitterten die schwarzen Flecken.
Die Zeit machte wieder einen Sprung. Plötzlich war Craddocks rechte Hand in der Luft, schwebte hoch über Georgias Kopf. Die Goldkette fiel aus der Hand nach unten. Das Pendel am Ende der Kette, ein gekrümmtes, zehn Zentimeter langes Rasiermesser, ein silbrig leuchtender Schlitz, schwang vor Georgias Augen in leichten Bogen hin und her, und sie starrte mit plötzlich weit aufgerissenen, faszinierten Augen darauf.
Wieder
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