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Blind

Blind

Titel: Blind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joe Hill
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Rücksitz und streckte ihre Stiefel aus einem der fehlenden Seitenfenster. Sie sang Lieder aus dem Radiomit, plapperte mit Bon wie mit einem Baby oder hielt Jude mit ihren Fragen auf Trab. Ob er wohl jemals eine Glatze bekomme (»keine Ahnung«), weil sie ihn dann nämlich verlassen würde (»kann ich dir nicht verdenken«), ob er sie noch sexy finden würde, wenn sie sich alle Haare abrasieren würde (»nein«), ob er sie den Mustang fahren ließe, wenn er damit fertig sei (»ja«), ob er schon mal in eine Schlägerei verwickelt gewesen sei (»versuch ich aus dem Weg zu gehen, mit 'ner gebrochenen Hand ist schlecht Gitarre spielen«), warum er nie über seine Eltern rede (worauf er nichts sagte) und ob er an das Schicksal glaube (»nein«, sagte er, was aber gelogen war).
    Bevor Anna und der Mustang in sein Leben getreten waren, hatte er eine neue CD aufgenommen, eine Soloplatte, und dann in vierundzwanzig Ländern über hundert Konzerte gegeben. Trotzdem fühlte er sich bei der Arbeit an dem Wagen zum ersten Mal, seit Shannon ihn verlassen hatte, als wäre er sinnvoll beschäftigt, als würde er eine Arbeit verrichten, die wirklich von Bedeutung war. Warum allerdings die Restaurierung eines Autos ehrliche Arbeit und nicht das Hobby eines reichen Mannes sein sollte, während ihm Plattenaufnahmen und Stadionauftritte eher wie ein Hobby denn wie Arbeit vorkamen, konnte er auch nicht sagen.
    Wieder ging ihm der Gedanke durch den Kopf, dass er lieber abhauen sollte. Setz dich in den Wagen, schau dir die Farm ein letztes Mal im Rückspiegel an, und dann nichts wie weg, egal, wohin.
    Der Gedanke bedrängte ihn derart, setzte ihm so zu hau ab, hau sofort ab-, dass Jude ganz kribbelig wurde. Der Gedanke, dass man ihn zur Flucht drängen wollte, ärgerte ihn. Sich hinters Steuer zu klemmen und einfach abzuhauen war keine Option, das war Panik. Und noch ein Gedanke machte ihm zu schaffen, ein beunruhigender, unbegründeter Gedanke, der ihm aber trotzdemmerkwürdig überzeugend erschien: dass nämlich der tote Mann wollte, dass er floh, dass er versuchte ihn abzudrängen von … tja, wovon? Jude hatte keine Ahnung. Draußen bellten die Hunde im Chor einem vorbeidonnernden Sattelschlepper hinterher.
    Wie auch immer, er würde nirgendwohin gehen, bevor er nicht mit Georgia gesprochen hatte. Und wenn er sich schließlich doch dazu entschließen sollte zu verschwinden, dann sollte er sich vielleicht vorher noch anziehen. Im nächsten Augenblick saß er jedoch schon in seinem Mustang. Ein guter Platz, um nachzudenken. Die besten Ideen hatte er schon immer bei laufendem Radio hinter dem Steuer seines Wagens gehabt.
    Er saß bei halb geöffnetem Seitenfenster in seiner dunklen Garage, deren Boden aus festgestampfter Erde bestand, und es schien ihm, wenn überhaupt ein Geist in seiner Nähe war, dass es dann der von Anna und nicht der ihres zornigen Stiefvaters war. Sie war so nah wie die Rückbank. Dort hatten sie es miteinander getrieben, natürlich. Er war ins Haus gegangen und hatte Bier geholt, und als er zurückgekommen war, hatte sie hinten im Mustang auf ihn gewartet, mit den Stiefeln an und sonst nichts. Er ließ das Bier fallen, das sich schäumend auf dem staubigen Boden ausbreitete. In jenem Augenblick war ihm nichts auf der Welt wichtiger erschienen als ihr festes sechsundzwanzig Jahre altes Fleisch, ihr sechsundzwanzig Jahre alter Schweiß, ihr Lachen, ihre Zähne an seinem Hals.
    Er lehnte sich auf dem weißen Leder zurück und spürte zum ersten Mal an diesem Tag, wie entkräftet er war. Seine Arme waren schwer und die nackten Füße von der Kälte halb taub. Auf dem Rücksitz lag sein schwarzer Staubmantel. Er griff nach hinten, holte ihn nach vorn und breitete ihn über seinen Beinen aus. Der Schlüssel steckte im Zündschloss. Er drehte auf Batterie und machte das Radio an.
    Jude war sich nicht mehr sicher, warum er überhaupt in den Wagen gestiegen war, aber jetzt, da er einmal saß, konnte er sich kaum noch vorstellen, sich vom Fleck zu bewegen. Weit weg, wie ihm schien, hörte er wieder das durchdringende, beunruhigte Bellen der Hunde. Er drehte das Radio lauter, um ihr Kläffen zu übertönen.
    John Lennon sang »I Am the Walrus«. Jude legte den Kopf zurück und entspannte sich unter dem wärmenden Mantel. Paul McCartneys federnder Bass verlor sich im dumpfen Brummen des Motors, was komisch war, weil er doch nur die Batterie angestellt und nicht den Motor angelassen hatte. Auf die Beatles folgte eine Serie von

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