JULIA SOMMERLIEBE Band 21
1. KAPITEL
Die gläsernen Eingangstüren zur San Francesco Klinik öffneten sich lautlos. Dennoch wandte jeder der Wartenden den Kopf, um den Mann zu betrachten, der aus der dunklen Nacht eintrat. Zielstrebig steuerte er auf den Empfang zu, scheinbar ohne sich der prüfenden Blicke bewusst zu sein. Eine der beiden Krankenschwestern, die gerade im Gang standen, ließ ihre Aufzeichnungen sinken und musterte den großen, schlanken Besucher mit dem zerzausten Haar. Unauffällig beugte sie sich zu ihrer Kollegin. „Er sieht aus, als käme er direkt aus dem Bett“, flüsterte sie. Sie ahnte nicht, wie recht sie damit hatte. Ihre Kollegin nickte zustimmend und seufzte sehnsüchtig.
Lorenzo Santangeli war nicht im klassischen Sinne schön. Aber sein schmales Gesicht mit den hohen Wangenknochen, den goldbraunen Augen und dem geschwungenen, sinnlichen Mund war durchaus reizvoll. Keine Frau, die ihn ansah, konnte sich der Kraft seiner Ausstrahlung entziehen.
„Mein Vater wurde gerade eingeliefert“, wandte er sich an die junge Frau am Empfang. Trotz seiner Anspannung klang seine Stimme ruhig. „Ein Notfall.“
Wenige Augenblicke später kam Signor Martelli, der Chefarzt des Krankenhauses, aus seinem Büro, um Lorenzo zu begrüßen. Erst jetzt schienen sich die Krankenschwestern aus der Erstarrung zu lösen und gingen eilig wieder an die Arbeit.
Lorenzo vergeudete keine Zeit mit Höflichkeiten. „Wie geht es ihm?“, fragte er voller Sorge.
„Den Umständen entsprechend gut“, entgegnete der Arzt. „Zum Glück war sehr schnell ein Krankenwagen zur Stelle, sodass Ihr Vater sofort ärztlich versorgt werden konnte.“ Er lächelte beruhigend. „Es war kein schlimmer Anfall. Wir gehen davon aus, dass der Marchese wieder vollkommen gesund wird.“
Lorenzo atmete auf. „Darf ich zu ihm?“
„Selbstverständlich. Ich werde Sie begleiten.“
Sie nahmen den Fahrstuhl in eines der oberen Stockwerke. Signor Martelli warf einen kurzen Seitenblick auf seinen Begleiter. „Es ist wichtig, dass Ihr Vater Anstrengungen vermeidet. Das Personal sagte mir, er sei sehr aufgeregt gewesen, als er auf Sie gewartet hat. Ich bin froh, dass Sie hier sind.“
„Das bin ich auch, Signore. “ Lorenzos Ton war zuvorkommend, machte dem Arzt jedoch auch unmissverständlich deutlich, nicht noch weiter nachzufragen.
Dem Chefarzt war bereits zu Ohren gekommen, dass Lorenzo Santangeli ein gefürchteter und Respekt einflößender Mann war, und er sah diesen Ruf bestätigt. Schweigend ging er weiter.
Lorenzo hatte erwartet, dass sein Vater von Ärzten und Pflegern umringt und an zahllose Überwachungsmonitore angeschlossen wäre. Tatsächlich aber war Guillermo Santangeli allein in dem komfortablen Privatzimmer. An einige Kissen gelehnt blätterte er seelenruhig in einem Fachmagazin der Wirtschaftspresse. Statt technischer Geräte stand neben ihm ein mächtiges Blumengesteck.
Einen Moment lang blieb Lorenzo im Türrahmen stehen. Er war erstaunt darüber, seinen Vater so entspannt zu sehen.
Guillermo seinerseits musterte seinen Sohn über den Rand seiner Brille hinweg. „Ah“, sagte er. „ Finalmente. “
Einen Augenblick hielt er inne. „Es war nicht einfach, dich aufzuspüren, mein Sohn.“
Die leichte Schärfe in seinen Worten war Lorenzo nicht entgangen. Mit einem entschuldigenden und gleichzeitig charmanten Lächeln trat er ans Bett seines Vaters. „Nun, Papa, jetzt bin ich ja hier. Und ich bin sehr froh, dass es dir besser geht. Ich habe mir Sorgen gemacht, als ich erfuhr, dass du einen Herzanfall hattest.“
„Die Ärzte nennen so etwas einen ‚Zwischenfall‘.“ Guillermo zuckte die Achseln. „Im ersten Moment besorgniserregend, aber nicht lebensbedrohlich. Ich muss noch ein paar Tage zur Beobachtung hierbleiben, aber dann kann ich wieder nach Hause.“ Er seufzte. „Allerdings werde ich Medikamente nehmen müssen, und die Ärzte haben mir das Rauchen und den Brandy verboten – zumindest vorübergehend.“
„Dass du deine Zigarren nicht mehr rauchen darfst, ist ein Segen für alle“, erwiderte Lorenzo lächelnd, während er die Hand seines Vaters ergriff und küsste.
Der Marchese verzog missmutig das Gesicht. „Ottavia ist derselben Meinung. Sie war bis eben da, hat mir meinen Pyjama und die Blumen gebracht. Ohne ihre schnelle Hilfe wäre ich jetzt nicht mehr hier. Wir hatten gerade gemeinsam zu Abend gegessen, als ich mich plötzlich unwohl fühlte.“
Lorenzo hob die Augenbrauen. „Dafür bin ich ihr sehr
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