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Blind

Blind

Titel: Blind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joe Hill
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ein Stop-Motion-Sprung. Craddock vorgebeugt, in erstarrter Haltung, die Lippen an Georgias Ohr. Der Mund bewegte sich nicht, aber Jude konnte Craddock flüstern hören, ein Geräusch, das sich anhörte, als ob jemand die Klinge des Rasiermessers an einem ledernen Streichriemen abzog.
    Jude wollte rufen. Er wollte ihr sagen, dass sie aufpassen solle, dass der tote Mann direkt neben ihr sei, dass sie weglaufen solle, sofort, dass sie ihm nicht zuhören dürfe. Aber sein Mund fühlte sich an, als wäre er mit Draht verklammert. Außer einem unregelmäßigen Stöhnen brachte er keinen Ton heraus. Schon die Anstrengung, die Augen offen zu halten, überstieg seine Kräfte, und so klappten seine Augen wieder zu. Er stemmte sich mit aller Macht gegen den Schlaf, aber er war zu schwach … ein ungewohntes Gefühl. Er tauchte wieder unter, und dieses Mal blieb er unten.
    Sogar im Schlaf wartete Craddock mit seinem Rasiermesser auf ihn. Die Klinge baumelte am Ende der Goldkette vor dem breiten Gesicht eines Vietnamesen, der bis auf einen um die Hüften geschlungenen weißen Stofffetzen nackt war. Er saß auf einem Stuhl mit harter Rückenlehne in einem nasskalten Raum aus Beton. Der Schädel des Vietnamesen war kahl geschoren, auf seiner Kopfhaut glänzten kleine rosa Kreise. Verbrennungen von den Elektroden.
    Durch ein Fenster sah Jude hinaus in den Regen vor seinem Haus. Die Hunde standen aufrecht mit den Vorderpfoten an der Fensterscheibe, wild kläffend, so nah, dass das Glas weiß beschlug. Es war, als sähe er sie mit abgedrehtem Ton im Fernsehen. Er hörte nicht das leiseste Geräusch.
    Jude stand stumm in der Ecke und hoffte, dass man ihn nicht sah. Die Klinge bewegte sich vor dem verwunderten, von Schweißperlen bedeckten Gesicht des Vietnamesen hin und her.
    »Die Suppe war vergiftet«, sagte Craddock. Er sprach vietnamesisch, aber nach Art der Träume verstand Jude genau, was er sagte. »Das ist das Gegengift.« Craddock deutete mit seiner freien Hand auf eine klobige Spritze, die in einer schwarzen herzförmigen Schachtel lag. Außerdem lag ein Bowie-Messer mit einer breiten Klinge und einem Teflongriff in der Schachtel. »Du kannst dich retten.«
    Der Vietcong nahm die Spritze und rammte sie sich, ohne zu zögern, in den Hals. Die Nadel war vielleicht zwölf, dreizehn Zentimeter lang. Jude zuckte zusammen und schaute zur Seite.
    Unwillkürlich fiel sein Blick auf das Fenster. Die Hunde auf der anderen Seite sprangen immer noch daran hoch, ohne dass sie das geringste Geräusch machten. Hinter den Hunden saß Georgia auf der einen Seite einer Wippe. Auf der anderen Seite saß ein kleines flachshaarigesMädchen. Es trug ein hübsches Kleid mit Blumenmuster und war barfuß. Georgia und das Mädchen hatten beide die Augen verbunden, mit schwarzen durchscheinenden Tüchern aus einem kreppartigen Stoff. Das blassgelbe Haar des Mädchens war zu einem lockeren Pferdeschwanz zusammengebunden. Ihr Gesicht war vollkommen ausdruckslos. Obwohl sie ihm entfernt bekannt vorkam, dauerte es einen langen, gedehnten Augenblick, bis es ihm plötzlich einfiel: Das war Anna im Alter von neun oder zehn Jahren. Anna und Georgia wippten auf und ab.
    »Ich will dir nur helfen«, hörte er Craddock auf Englisch zu dem Gefangenen sagen. »Du steckst ziemlich in Schwierigkeiten. Aber ich kann dir helfen. Du musst nur genau zuhören. Nicht nachdenken. Hör nur auf meine Stimme. Es dämmert bald. Es ist fast Zeit. Bei Einbruch der Dunkelheit stellen wir das Radio an und hören auf die Stimme aus dem Radio. Wir tun, was uns der Mann im Radio sagt. Dein Kopf ist ein Radio, und meine Stimme ist die einzige Sendung.«
    Jude drehte sich um, und Craddock war nicht mehr da. Auf dem Platz, wo er gesessen hatte, stand jetzt ein altmodischer Radioapparat, dessen Anzeige grün leuchtete. Craddocks Stimme drang daraus hervor. »Deine einzige Überlebenschance ist die, genau das zu tun, was ich dir sage. Meine Stimme ist die einzige Stimme, die du hören kannst.«
    Jude fröstelte. Die Richtung, in die sich die Geschichte entwickelte, passte ihm nicht. Er kam aus seiner Ecke, war in drei Schritten am Tisch, packte die Schnur des Radios an der Stelle, wo sie aus der Wand kam, und riss daran. Blaue Funken sprühten und stachen ihm in die Hand. Er zuckte zurück und schleuderte das Kabel auf den Boden. Das Radio plapperte weiter wie zuvor.
    »Es dämmert. Endlich bricht die Nacht herein. Es istZeit. Siehst du das Messer in der Schachtel? Nimm's raus. Es gehört

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