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Blind

Blind

Titel: Blind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joe Hill
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dir. Nimm's ruhig. Alles Gute zum Geburtstag.«
    Der Vietcong schaute einigermaßen neugierig in die herzförmige Schachtel und nahm dann das Bowie-Messer heraus. Er drehte und wendete es, sodass die Klinge im Licht aufblitzte.
    Jude bückte sich und schaute auf die Anzeige des Radioapparats. Seine rechte Hand pochte noch von dem Stromschlag, sie war ungelenk und nur schwer zu dirigieren. Er sah keinen Netzschalter, also drehte er am Senderknopf, um Craddocks Stimme loszuwerden. Plötzlich hörte er ein Geräusch, das er zunächst für atmosphärische Störungen hielt, das sich aber im nächsten Moment als das permanente atonale Summen einer riesigen Menschenmenge, als tausend gleichzeitig plappernde Stimmen entpuppte.
    Ein Mann sagte im Tonfall eines allwissenden, ausgefuchsten Radioreporters aus den Fünfzigern: »Stottlemyre hypnotisiert heute mal wieder alle mit seiner unnachahmlichen Curveball-Wurftechnik, und wieder vergeigt Tony Conigliaro das Ding. Sie glauben wahrscheinlich, dass man einen hypnotisierten Menschen nicht dazu bringen kann, etwas zu tun, was er nicht tun will. Aber hier haben Sie den Beweis, dass das einfach nicht stimmt, denn es ist ja wohl klar, dass Conigliaro nicht gewollt haben kann, diesen letzten Ball zu schlagen. Man kann jeden dazu bringen, die schrecklichsten Dinge zu tun. Man muss ihn nur richtig weichklopfen.« Ein trockenes, leises Lachen war zu hören. »Was ich damit meine, demonstriere ich Ihnen nun an unserem kleinen Schlitzauge hier. He, Schlitzi, die Finger deiner Rechten sind giftige Schlangen. Pass auf, dass sie dich nicht beißen!«
    Der Vietcong zuckte schockiert zurück und prallte gegen die Rückenlehne seines Stuhls. Seine Nasenflügelzitterten, seine Augen verengten sich, sein Blick war plötzlich wild entschlossen. Auf quietschenden Fußsohlen fuhr Jude herum und wollte »Nein!« schreien, aber das Wort blieb ihm im Hals stecken. Der vietnamesische Gefangene atmete scharf ein, und dann fuhr das Messer nach unten.
    Die Finger fielen von der Hand – nur dass es die Köpfe von Schlangen waren, schwarz und glänzend. Der Vietcong schrie nicht. In seinem feuchten, mandelbraunen Gesicht stand so etwas wie Triumph. Er hob die rechte Hand und zeigte fast stolz die Stummel seiner Finger. Das Blut blubberte aus ihnen heraus und lief an der Innenseite des Arms herunter.
    »Dieser groteske Akt der Selbstverstümmelung wurde Ihnen präsentiert mit freundlicher Unterstützung von Moxie Orange. Wenn Sie noch nie ein Moxie getrunken haben, fragen Sie doch Mickey Mantle, warum er der Meinung ist, dass es nichts Besseres gibt. Strike out…«
    Jude drehte sich um und wankte zur Tür. Hinten im Rachen schmeckte er Erbrochenes, er roch es bei jedem Atemzug. Ganz am Rand seines Blickfelds sah er das Fenster und die Wippe. Sie bewegte sich immer noch auf und ab. Es saß niemand darauf. Die Hunde lagen auf der Seite im Gras und schliefen.
    Er stürzte durch die Tür und stolperte über zwei bröckelige, schiefe Stufen in den staubigen Hof hinter der Farm seines Vaters. Sein Vater saß mit dem Rücken zu ihm auf einem Felsen und zog an einem schwarzen Streichriemen sein Rasiermesser ab. Das Geräusch hörte sich genauso an wie die Stimme des toten Mannes, oder umgekehrt, Jude war sich da nicht sicher. Im Gras neben Martin Cowzynski stand eine Zinkwanne mit Wasser, in der ein schwarzer Filzhut schwamm. Der Anblick des Huts auf dem Wasser war entsetzlich. Jude wollte schreien.
    Die grelle Sonne schien ihm mitten ins Gesicht, ein stetes Brennen. Er stolperte in die Hitze, taumelte zurück und hielt sich die Hand über die Augen, um sich vor dem Licht zu schützen. Martin zog die Klinge quer über den Riemen, worauf in fetten Tropfen Blut vom schwarzen Leder fiel. Wenn er die Klinge nach vorn strich, flüsterte der Riemen Tod. Zog er das Messer ruckartig nach hinten, war ein ersticktes Geräusch zu hören, das wie Liebe klang. Jude blieb nicht stehen, um mit seinem Vater zu sprechen, er wollte so schnell wie möglich um das Haus herumgehen.
    »Jude«, rief Martin, worauf Jude ihm unwillkürlich einen kurzen Seitenblick zuwarf. Sein Vater trug eine Blindenbrille mit einem silbernen Gestell und runden schwarzen Gläsern. Das Licht spiegelte sich in den Gläsern. »Du musst wieder ins Bett, Junge. In dem Ding verbrennst du ja. Wo willst du in dem Aufzug überhaupt hin?«
    Jude schaute an sich hinab und sah, dass er den Anzug des toten Mannes trug. Ohne seinen Schritt zu verlangsamen, ging er

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