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Blind

Blind

Titel: Blind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joe Hill
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drehten allmählich durch.
    Georgia. Das Wichtigste war jetzt, dass er Georgia fand. Danach konnten sie sich über den Pick-up Gedankenmachen. Zusammen konnten sie die Situation in den Griff bekommen.
    Jude schaute zur Tür. Er dehnte die Finger, da seine Hände taub vor Kälte waren. Er wollte nicht auf den Flur hinaus, er wollte nicht die Tür öffnen und Craddock auf seinem Stuhl sitzen sehen, auf einem der Knie der Hut und in der Hand die hin- und herschwingende Kette mit dem Rasiermesser.
    Aber die Gedanken an eine weitere Begegnung mit dem toten Mann und an das, was ihn da draußen erwartete, hielten ihn nur einen Augenblick lang auf. Dann löste er sich aus seiner Erstarrung, ging zur Tür und öffnete sie.
    »Vorwärts, Junge«, sagte er in den Flur, noch bevor er überhaupt gesehen hatte, ob da jemand auf ihn wartete.
    Es wartete niemand.
    Jude hielt inne und lauschte in die Stille des Hauses. Erschöpft atmete er durch. Der lange Flur lag im Dunkeln, der Shaker-Stuhl an der Wand war leer. Nein, nicht leer. Ein schwarzer Filzhut lag darauf.
    Er hörte leise Geräusche: wispernde Fernsehstimmen, in der Ferne rauschende Brandung. Er wandte den Blick vom Hut ab und schaute zum Ende des Flurs. Unter der Tür zu seinem Studio flackerte blaues Licht. Georgia war da drin, sie hatte sich also doch vor den Fernseher gesetzt.
    Vor der Tür blieb Jude unschlüssig stehen und lauschte. Er hörte eine Stimme, die auf Spanisch etwas rief, eine TV-Stimme. Das Rauschen der Brandung übertönte sie. Jude machte den Mund auf und wollte ihren Namen rufen, Marybeth, nicht Georgia, Marybeth. Doch ihm versagte die Stimme. Das Marybeth, das er zustande brachte, war kaum mehr als ein schwaches Röcheln.
    Er öffnete die Tür.
    Georgia saß in dem hohen Sessel an der Wand gegenüber mit dem Rücken zu ihm vor dem FlachbildfernsehenEr konnte nur ihren Hinterkopf sehen, die wuscheligen schwarzen Haare, die von einem Strahlenkranz aus künstlichem blauem Licht umgeben waren. Ihr Kopf verdeckte auch fast den gesamten Bildschirm, er sah nur ein paar Palmen und blauen Tropenhimmel. Sonst war es dunkel im Zimmer, alle Lampen waren ausgeschaltet.
    »Georgia.« Sie antwortete nicht, und sein nächster Gedanke war, dass sie tot war, dass die Augen, wenn er zu ihr ginge und ihr ins Gesicht schaute, sich in ihre Höhlen zurückgezogen hätten.
    Er ging auf sie zu und hatte gerade zwei Schritte gemacht, als das Telefon auf dem Schreibtisch klingelte.
    Jude sah jetzt den ganzen Bildschirm. Er sah einen rundlichen Mexikaner, der eine Sonnenbrille und einen beigefarbenen Jogginganzug trug und in einer dschungelartigen Hügellandschaft am Rand eines Feldwegs stand. Obwohl er den Film seit Jahren nicht mehr gesehen hatte, wusste Jude, was Georgia sich anschaute. Es war der Snuff-Film.
    Als das Telefon klingelte, schien sich Georgias Kopf ganz leicht zur Seite zu bewegen, und er glaubte zu hören, wie sie ausatmete, ein Geräusch, das angespannt klang, angestrengt. Also nicht tot. Aber sie zeigte keine weitere Reaktion, sie schaute sich nicht um, und sie stand nicht auf, um ans Telefon zu gehen.
    Er machte einen Schritt in Richtung Schreibtisch und hob ab, als es gerade das zweite Mal klingelte.
    »Bist du das, Danny? Immer noch keine Ahnung, wo du bist?«, fragte Jude.
    »Keinen Schimmer«, sagte Danny und lachte matt. »Ich steh hier irgendwo am Arsch der Welt in einer Telefonzelle. Komisch, scheint kaum noch Telefonzellen zu geben.«
    »Ich hoffe, du rufst nicht an, weil ich dich suchen soll«, sagte Jude. »Ich hab nämlich gerade alle Hände vollzu tun. Und wenn ich dich wirklich suchen muss, dann hoff bloß, dass ich dich nicht finde.«
    »Ich weiß es jetzt, Chef. Wie ich hierher gekommen bin. Auf die dunkle Straße.«
    »Und, wie?«
    »Ich hab mich umgebracht. Ich hab mich vor ein paar Stunden aufgehängt. Diese dunkle Straße … das ist der Tod.«
    Judes Kopfhaut kribbelte, ein juckendes, eisiges Gefühl, fast schmerzhaft.
    »Meine Mutter hat sich auf die gleiche Art aufgehängt«, sagte Danny. »Hat bei ihr allerdings besser geklappt. Hat sich das Genick gebrochen. War sofort tot. Ich hab im letzten Moment noch Muffe gekriegt. Der Ruck war nicht kräftig genug. Ich hab mich zu Tode stranguliert.«
    Aus dem Fernseher kamen würgende Geräusche, als ob jemand zu Tode stranguliert würde.
    »Hat ziemlich lange gedauert, Jude«, sagte Danny.
    »Ich weiß noch, dass ich lange hin- und hergeschaukelt bin. Hab runter auf meine Füße geschaut. Ich

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