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Blind

Blind

Titel: Blind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joe Hill
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angerufen, zum Geburtstag oder um ihm zu erzählen, wie es ihr ging? Ein, zwei Mal war Jude in die Musikbibliothek gekommen, als Anna gerade mit ihrer Schwester telefoniert hatte, kurz angebunden, die Stirn konzentriert in Falten gelegt, mit leiser Stimme. Sie war ihm nicht wie sie selbst vorgekommen, sondern wie jemand, der bei einer ihm unangenehmen Sportart mitmachte, einem Spiel, das er nicht mochte, bei dem er aber aus Pflichtgefühl mitspielte. »Ist nicht nötig, dass du mit ihm sprichst.«
    »Warum soll ich nicht mit ihm sprechen? Angst, das wir uns in die Haare kriegen?«
    »Ach was, er würde nie grob werden, weder zu dir noch zu sonst wem. Der Typ ist er nicht. Man kann völlig problemlos mit ihm reden. Er kommt mit jedem gut aus.«
    »Aber?«
    »Ich hab zwar noch nie mit ihm darüber gesprochen, aber ich weiß genau, was er darüber denkt, dass ich mich mit dir eingelassen habe. Gefällt ihm sicher nicht. So alt, wie du bist, und dann die Musik, die du machst. Er hasst diese Art von Musik.«
    »Es gibt mehr Leute, die sie nicht mögen, als solche, die sie mögen. Darum geht's doch gerade.«
    »Er hält prinzipiell nicht viel von Musikern. Gibt wahrscheinlich niemanden, der weniger mit Musik anfangenkann. Als wir klein waren, hat er Jessica und mich und meine Mutter immer auf seine langen Fahrten zu den Leuten mitgenommen, für die er mit seiner Wünschelrute nach einem Brunnen suchen sollte, und da mussten wir den ganzen Tag Wortradio hören. Was, war völlig egal. Und wenn stundenlang nur Wetterberichte kamen.«
    Sie fuhr sich mit zwei Fingern durchs Haar und zog eine goldene Strähne heraus, die sie dann langsam durch die Finger gleiten und aufs Bett fallen ließ. Dann redete sie weiter.
    »Er hatte einen echt gruseligen Trick drauf. Er hat auf Mittelwelle einen Sender rausgesucht, wo sich immer diese durchgeknallten Pfingstkirchler in Rage reden, über Jesus und so. Und das mussten wir uns anhören, ewig, bis Jessica und ich förmlich gebettelt haben, dass er einen anderen Sender einstellen soll. Aber er sagt kein Wort, reagiert gar nicht, und wenn wir es schließlich nicht mehr ausgehalten haben, fängt er plötzlich an, mit sich selbst zu reden. Und zwar genau das Gleiche, was der Prediger im Radio gerade sagt, zur gleichen Zeit, nur mit seiner eigenen Stimme. Hat Wort für Wort mitgesprochen und keine Miene verzogen dabei. ›Der Erlöser Jesus Christus ist für uns am Kreuz gestorben. Und was wirst du für ihn tun? Er hat das Kreuz getragen und ist angespuckt worden dafür. Und welche Bürde wirst du tragen?‹ Als wenn er vom gleichen Zettel abliest. Und er redet und redet, bis meine Mutter ihm gesagt hat, er soll jetzt endlich aufhören damit, sie könnte es nicht mehr hören. Dann hat er gelacht und das Radio ausgeschaltet. Aber er hat immer noch weitergeredet. Leiser jetzt, geflüstert. Das Radio war aus, und er hat den Text des Predigers weitererzählt. Als ob er ihn im Kopf hört, als ob er die Sendung über seine Zahnplomben empfangen könnte. Damit hat er mir immer höllisch Angst eingejagt.«
    Jude sagte nichts dazu und hatte auch nicht den Eindruck, dass sie einen Kommentar erwartete. Außerdem war er sich nicht sicher, ob die Geschichte überhaupt stimmte oder nicht nur die neueste in der langen Serie der sie quälenden Wahnvorstellungen war.
    Sie seufzte und ließ noch eine Strähne auf die Matratze schweben. »Ich wollte nur sagen, dass er dich bestimmt nicht mögen würde und dass er so seine Methoden hat, Freunde von mir, die er nicht mag, wegzuekeln. Jede Menge Väter sind überfürsorglich, wenn es um ihre kleinen Mädchen geht, und wenn jemand auftaucht, der ihnen nicht passt, dann versuchen sie eben, denjenigen zu verscheuchen. Setzen denjenigen ein bisschen unter Druck. Das klappt natürlich nie, weil die Mädchen sich immer auf die Seite der Jungs schlagen und die Jungs nicht lockerlassen. Entweder weil sie sich keine Angst einjagen lassen oder weil sie nicht wollen, dass das Mädchen glaubt, man lässt sich Angst einjagen. Mein Stiefvater ist da viel schlauer. Er ist so freundlich, wie man sich nur vorstellen kann, selbst bei Leuten, die er am liebsten bei lebendigem Leib verbrennen würde. Wenn er einen vertreiben will, den er nicht in meiner Nähe sehen will, dann verjagt er ihn, indem er ihm die Wahrheit sagt. Die Wahrheit reicht in der Regel völlig.
    Ich geb dir mal ein Beispiel. Als ich sechzehn war, hab ich einen Typen kennengelernt, bei dem völlig klar war, dass ihn

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