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Blind

Blind

Titel: Blind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joe Hill
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an. Sie ist ein eiskaltes Miststück, wir sind nie miteinander ausgekommen. Sie hat es mir nie verziehen, dass ich die kleine Niedliche war und immer die schöneren Weihnachtsgeschenke bekommen habe. Nach dem Tod unserer Mutter musste sie in die Hausmuttchenrolle, und ich durfte weiter Kind sein. Jessie hat für uns die Wäsche gemacht und gekocht, da war sie gerade mal vierzehn, und niemand hat es jemals geschafft, angemessen zu würdigen, wie hart sie gearbeitet hat und wie viel Spaß ihr deshalb entgangen ist. Aber meine Heimholung wird sie kühl und sachlich organisieren. Sie freut sich bestimmt, wenn ich zurückkomme, dann kann sie mich wieder rumkommandieren und mir Vorschriften machen.«
    Als Jude schließlich im Haus der Schwester anrief, hob nach dem dritten Klingeln dann doch ihr alter Herr ab.
    »Was kann ich für Sie tun? Raus damit. Wenn ich kann, helfe ich Ihnen.«
    Jude stellte sich vor und sagte, dass Anna für eine Weile nach Hause kommen wolle, und stellte es so dar, als wäre es mehr ihre als seine Idee gewesen. Beim Versuch, ihm Annas Zustand zu beschreiben, vollführte er geistige Klimmzüge, aber Craddock kam ihm zu Hilfe.
    »Wie schläft sie?«, fragte er.
    »Nicht besonders«, sagte Jude erleichtert, weil er begriff, dass damit in gewissem Sinne alles gesagt war.
    Jude bot ihm an, Anna von einem Fahrer abholen zu lassen, der sie vom Bahnhof in Jacksonville zu JessicasHaus in Testament bringen würde. Aber Craddock lehnte ab, er würde sie selbst vom Zug abholen.
    »Die Fahrt nach Jacksonville passt mir ganz gut. Jeder Vorwand, um ein paar Stunden mit dem Pick-up rumzugondeln. Fenster runter und ein bisschen blöd in die Gegend gucken.«
    »Hört sich gut an«, sagte Jude, der den alten Mann trotz Annas Warnungen ganz sympathisch fand.
    »Ich weiß zu schätzen, dass Sie sich so um mein kleines Mädchen gekümmert haben. Schon als Teenager hatte sie ihr ganzes Zimmer mit Postern von Ihnen vollgepflastert. Sie wollte Sie immer kennenlernen. Sie und diesen Burschen von … Wie hießen die noch gleich? Mötley Crue? Die hat sie wirklich geliebt. Ein halbes Jahr lang ist sie denen hinterhergereist. Alle Konzerte hat sie gesehen. Ein paar von denen hat sie dann ja auch kennengelernt. Nicht von der Band selbst, glaube ich, aber von den Roadies. Das war ihre wilde Zeit damals. Na ja, so richtig mit beiden Füßen auf dem Boden steht sie ja wohl immer noch nicht, oder? Sie hat alle Ihre Alben geliebt, eigentlich alle Arten von Heavy Metal. Ich habe immer gewusst, dass sie sich mal einen Rockstar angeln würde.«
    Jude spürte eine trockene, gefährlich prickelnde Kälte in der Brust. Er wusste, was Craddock ihm damit sagen wollte – dass sie mit Roadies gevögelt hatte, um an Mötley Crüe ranzukommen, dass sie scharf darauf war, mit Stars zu vögeln, und wenn sie nicht mit ihm vögeln würde, dann hätte sie sich eben Vince Neil oder Slash gegriffen. Und er wusste auch, warum Craddock ihm das alles erzählte. Aus dem gleichen Grund, warum er Annas jüdischen Freund zu ihr geschickt hatte, als sie übergeschnappt war, nämlich um einen Keil zwischen sie zu treiben.
    Womit Jude allerdings nicht gerechnet hatte, war, dass er sich - eine zwar merkte, worauf Craddock aus war, es aber trotzdemfunktionierte. Als Craddock ihm das alles erzählte, musste er sofort daran denken, wie er und Anna sich bei einem Konzert von Trent Reznor kennengelernt hatten. Wie war sie hinter die Bühne gekommen? Wen hatte sie gekannt, und was hatte sie tun müssen, um an einen Backstage-Pass zu kommen? Wenn Trent damals reinspaziert wäre, hätte sie sich dann zu seinen Füßen niedergelassen und ihn mit den gleichen goldigen, sinnlosen Fragen gelöchert?
    »Ich kümmere mich um sie, Mr Coyne. Setzen Sie sie einfach in den Zug, ich hole sie dann ab«, sagte Craddock.
    Jude fuhr sie selbst zur Penn Station. Den ganzen Morgen zeigte sie sich von ihrer besten Seite, gab sich alle Mühe, das Mädchen von damals zu sein und nicht das unglückliche Mädchen, das sie in Wirklichkeit war. Aber jedes Mal wenn er sie anschaute, spürte er wieder diese trockene Kälte in der Brust. Das elfenhafte Grinsen, die Art, wie sie sich das Haar hinter die Ohren strich, damit man ihre kleinen rosa Ohrläppchen mit den Piercings sehen konnte, die letzte Serie dämlicher Fragen, alles erschien ihm wie kaltblütige Manipulation und verstärkte nur seinen Wunsch, von ihr loszukommen.
    Falls sie seine Zurückhaltung spürte, so zeigte sie es jedenfalls

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