Blind
um, das Ganze war ihm unvorstellbar. Wieder stieß er sie mit dem Ellbogen grob gegen die Beifahrertür.
Fast den ganzen nächsten Tag ging er ihr aus dem Weg. Am Abend darauf, als er von seinem Spaziergang mit den Hunden zurückkam, rief sie von der hinteren Treppe nach unten. Sie fragte, ob er ihr eine Suppe machen könne, irgendwas, egal. Er sagte okay.
Als er mit einem kleinen Tablett, auf dem ein Teller Nudelsuppestand, ins Schlafzimmer kam, sah er sofort, dass sie sich wieder gefangen hatte. Erledigt und ausgepumpt, aber klar im Kopf. Sie versuchte ein Lächeln für ihn, was das Letzte war, was er jetzt gebrauchen konnte. Was er tun musste, würde schon so hart genug werden.
Sie setzte sich auf und stellte das Tablett auf ihren Oberschenkeln ab. Ersaß auf der Bettkante und sah ihr dabei zu, wie sie in kleinen Schlucken die Suppe zu sich nahm. Sie hatte eigentlich gar keinen Appetit. Die Suppe war nur ein Vorwand gewesen, damit er zu ihr kam. Die gereizte Art, wie sich vor jedem Schlückchen das Kinn verspannte, sagte alles. In den letzten drei Monaten hatte sie zwölf Pfund abgenommen.
Sie hatte nicht einmal ein Viertel der Brühe gegessen, als sie das Tablett neben sich aufs Bett stellte. Dann lächelte sie ihn an wie ein Kind, das erst dann seinen Eisbecher bekommt, wenn es den Spargel hinuntergewürgt hat. Sie sagte danke, das sei gut gewesen. Sie sagte, jetzt fühle sie sich schon besser.
»Ich muss nächsten Montag nach New York, Radio-Interview, Howard Stern«, sagte Jude.
Ein ängstliches Flackern in ihren blassen Augen. »Ich … ich glaube, da fahre ich lieber nicht mit.«
»Ich hätte dich gar nicht gefragt. Die Stadt wäre jetzt das Schlechteste für dich.«
Sie sah ihn so dankbar an, dass er wegschauen musste.
»Aber hier lassen kann ich dich auch nicht«, sagte er. »So ganz allein. Ich hab mir gedacht, vielleicht solltest du eine Zeit lang mal wieder runter zu deiner Familie. Nach Florida.« Als sie nichts darauf sagte, redete er weiter. »Gibt's jemanden aus deiner Familie, den ich anrufen kann?«
Sie rutschte wieder in die Waagerechte und zog sich die Bettdecke bis ans Kinn. Er fürchtete schon, sie würde anfangen zu weinen, aber sie legte nur die Hände auf der Brust übereinander und schaute ruhig zur Decke.
»Klar«, sagte sie schließlich. »Es war nett von dir, dass du mich überhaupt so lange bei dir aufgenommen hast.«
»Was ich neulich Abend gesagt habe …«
»Ich kann mich an nichts erinnern.«
»Gut. Was ich da gesagt habe, vergisst man auch besser. Ich hab's sowieso nicht so gemeint.« Tatsächlich war das, was er ihr gesagt hatte, genau das gewesen, was er auch gemeint hatte. Es war nur die rüdestmögliche Version dessen gewesen, was er ihr auch jetzt erzählte.
Das beiderseitige Schweigen zog sich unangenehm in die Länge, sodass er das Gefühl hatte, ihr noch einen Stoß versetzen zu müssen. Aber als er gerade den Mund öffnen wollte, fing sie an zu sprechen.
»Du kannst meinen Vater anrufen«, sagte sie. »Meinen Stiefvater, meine ich, mein richtiger ist ja schon tot. Wenn du meinen Stiefvater anrufst, der kommt auch den ganzen Weg hochgefahren und holt mich persönlich ab, wenn du willst. Du musst es ihm nur sagen. Mein Stiefvater nennt mich gern seine kleine Zwiebel. Ich bring ihn zum Weinen. Ist das nicht süß?«
»Er braucht dich nicht abzuholen. Ich lass dich mit einem Privatjet runterfliegen.«
»Nicht fliegen. Flugzeuge sind zu schnell. In den Süden kann man nicht mit dem Flugzeug. Man muss selber fahren. Oder den Zug nehmen. Man muss sehen, wie aus Erde Lehm wird. Man muss die Schrottplätze mit den verrosteten Autobergen sehen. Man muss über ein paar Brücken fahren. Es heißt, dass böse Geister keine fließenden Gewässer überqueren können. Aber das ist Humbug. Ist dir schon mal aufgefallen, dass die Flüsse im Norden ganz anders sind als die im Süden? Die im Süden sind schokoladenfarben, und sie riechen nach Sumpf und Moos. Hier oben sind sie alle schwarz, und sie riechen süßlich, wie Tannenbäume. Wie Weihnachten.«
»Ich könnte dich zur Penn Station bringen und in den Zug setzen. Ist das langsam genug für eine Fahrt in den Süden?«
»Ja.«
»Dann rufe ich also deinen Va… deinen Stiefvater an.«
»Ist vielleicht besser, wenn ich ihn selbst anrufe«, sagte sie. Ihm ging der Gedanke durch den Kopf, wie selten sie irgendwen aus ihrer Familie anrief. Sie waren jetzt seit über einem Jahr zusammen. Hatte sie jemals ihren Stiefvater
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