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Blind

Blind

Titel: Blind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joe Hill
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nicht. Im Bahnhof stellte sie sich auf die Zehenspitzen, schlang ihm die Arme um den Hals und drückte ihn heftig an sich-eine Umarmung ohne jeden sexuellen Beiklang.
    »Wir hatten viel Spaß zusammen, oder?«, sagte sie. Immer diese Fragen.
    »Klar«, sagte er. Er hätte noch mehr sagen können, dass er sie bald anrufen würde, dass sie besser auf sich achtgeben solle, aber er hatte einfach nicht das Zeug, ihr alles Gute zu wünschen. Als er dann doch noch den Drang verspürte, zärtlich zu sein, mitfühlend, hörte er im Kopf die Stimme ihres Stiefvaters, warm, freundlich,überzeugend: »Ich habe immer gewusst, dass sie sich einen Rockstar angeln würde.«
    Anna grinste, als hätte er ihr eine ziemlich schlaue Antwort gegeben, und drückte seine Hand. Er wartete, bis sie eingestiegen war, blieb aber nicht bis zur Abfahrt des Zuges. Es war laut auf dem überfüllten Bahnsteig, die hallenden Stimmen machten einen höllischen Lärm. Er fühlte sich bedrängt und bedroht, der Gestank von heißem Eisen, abgestandener Pisse und den warmen, schwitzenden Leibern deprimierte ihn.
    Auch vor dem Bahnhof, in der regnerischen Herbstkühle Manhattans, war es nicht besser. Das Gefühl der Beengtheit, von allen Seiten eingekeilt zu sein, begleitete ihn bis ins Pierre Hotel und verließ ihn auch in der Stille und Leere seiner Suite nicht. Er war angriffslustig, musste etwas tun, musste selbst irgendwelchen widerwärtigen Radau veranstalten.
    Vier Stunden später befand ersieh genau am richtigen Ort dafür – in Howard Sterns Rundfunkstudio. Er beleidigte und pöbelte; er demütigte Sterns Entourage aus stupiden Stiefelleckern, sobald sie dumm genug waren, ihn zu unterbrechen; er ließ eine seiner Brandreden vom Stapel, in denen er Perversion und Hass, Chaos und Zynismus predigte. Howard Stern war entzückt. Seine Leute wollten wissen, wann Judes Comeback anstehe.
    Am Wochenende darauf war er immer noch in New York und immer noch gleicher Stimmung, als ihn Sterns Mannschaft in einen Stripclub am Broadway einlud. Das waren die gleichen Leute, die er erst ein paar Tage zuvor vor einem Millionenpublikum lächerlich gemacht hatte. Sie nahmen es nicht persönlich. Lächerlich gemacht zu werden, war ihr Job. Sie waren ganz verrückt nach ihm. In ihren Augen hatte er eine Hammershow abgeliefert.
    Er bestellte ein Bier, von dem er nicht trank, und saß am Ende eines Laufstegs, der wie eine einzige lange,von unten mit weichem blauem Scheinwerferlicht angestrahlte Milchglasscheibe aussah. Die Gesichter im Halbdunkel entlang dem Laufsteg kamen ihm alle falsch vor, künstlich, kränklich: Gesichter von Ertrunkenen. Der Kopf tat ihm weh. Wenn er die Augen schloss, sah er das gespenstisch blitzende Feuerwerk, das eine Migräne ankündigte.
    Als er die Augen öffnete, sank vor ihm ein Mädchen mit einem Messer in der Hand auf die Knie. Ihre Augen waren geschlossen. Sie bog sich langsam nach hinten, bis der Kopf den Glasboden berührte und sich ihr federweiches schwarzes Haar über dem Laufsteg ausbreitete. Sie war immer noch auf den Knien.
    Sie bewegte das Messer – ein Bowie-Jagdmesser mit einer langen, breiten Sägeklinge – vorn an ihrem Körper hinunter. Sie trug ein Hundehalsband mit silbernen Ringen, einen Teddy-Body mit Bändern, die ihren Busen zusammenschnürten, und schwarze Netzstrümpfe.
    Als sie mit dem Messer- die Klinge nach oben gerichtet wie ein Penis- zwischen ihren Beinen anlangte, warf sie es in die Luft, riss die Augen auf, fing das Messer wieder auf und drückte im gleichen Moment den Rücken durch, als ob sie ihre Brust wie ein Opfer der Decke entgegenreckte.
    Dann fuhr das Messer in der Mitte des Körpers nach unten und schlitzte – als würde sie sich vom Hals bis zum Schritt aufschneiden – den schwarzen Teddy-Body auf. Ein dunkelroter Streifen leuchtete auf. Sie rollte sich herum und warf das Kostüm ab. Darunter war sie nackt bis auf die Silberringe an ihren Brustwarzen und dem G-String, den sie bis über beide Hüftknochen hochgezogen hatte. Ihr geschmeidiger, seehundglatter Torso war mit blutroter Körperfarbe bemalt.
    AC/DC spielten »If You Want Blood You've Got It«. Was ihn anmachte, war nicht ihr athletischer junger Körper, nicht, wie sie ihre Brüste mit den Silberreifen bewegte,und auch nicht ihr direkter, unerschrockener Blick, wenn sie ihn anschaute.
    Was ihn anmachte, war, dass sich kaum merklich ihre Lippen bewegten. Er bezweifelte, dass das irgendwem sonst auffiel. Sie sang für sich selbst, zusammen

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