Blind
Polizei seine Aussage aufnehmen wolle wegen Danny und er solle sie so schnell wie möglich anrufen.
Die nächste Nachricht war von Jerome Presley, der vor vier Jahren umgekommen war, als er seinen Porsche mit über hundert Meilen gegen eine Trauerweide gesetzt hatte. »He, Jude, sieht ganz so aus, als könnten wir die Band bald wieder aufmachen, ha? Mit John Bonham am Schlagzeug, und Joey Ramone macht den Background-Gesang.« Er lachte. Jeromes krächzende Stimme hatte Jude immer an den Komiker Steven Wright erinnert. In diesem vertrauten, träge schleppenden Tonfall sprach Jerome weiter. »Hab gehört, du fährst jetzt einen aufgemotzten Mustang. Da waren wir immer auf gleicher Wellenlänge, Jude – über Autos konnten wir ewig reden. Radaufhängungen, Motoren, Spoiler, Soundanlagen, Mustangs, Thunderbirds, Chargers, Porsches. Weißt du, was mir durch den Kopf gegangen ist an dem Abend, als ich den Porsche geschrottet habe? Die ganze Scheiße, die ich dir nie erzählt habe. Die ganze Scheiße, über die wir nicht geredet haben. Zum Beispiel, dass du mich erst mit deinem Koks auf Drogen gebracht hast und dann, als du selbst clean warst, so unverschämt gewesen bist, mir mit dem Rausschmiss aus der Band zu drohen, wenn ich nichtauch clean werde. Oder dass du Christine Geld gegeben hast, damit sie ihren eigenen Laden aufmachen kann, nachdem sie sich die Kinder geschnappt und ohne ein Wort aus dem Staub gemacht hat. Und dass du ihr auch noch Geld für den Anwalt gegeben hast. Na, wenn das keine Loyalität ist. Oder dass ich dir nicht mal einen simplen verfickten Kredit wert war, als ich alles, das Haus, die Autos, alles verloren hatte. Und ich Idiot, was mach ich? Du warst gerade mit dem Bus aus Louisiana eingelaufen, keine dreißig Dollar hattest du in der Tasche, da hab ich dich auf dem Bett bei mir im Keller pennen lassen.« Jerome lachte wieder sein hartes, ätzendes Raucherlachen. »Bald können wir ja endlich mal über den ganzen Kram reden. Kann sich nur noch um Tage handeln, so wie ich das sehe. Hab gehört, du bist gerade auf der Straße der Nacht unterwegs. Ich weiß, wo die hinführt. Volles Rohr gegen einen Scheißbaum. Die haben mich aus den Ästen rausgepflückt. Bis auf die Teile, die an der Windschutzscheibe geklebt haben. Du fehlst mir, Jude. Freu mich schon, wenn ich dich in die Arme schließen kann. Und dann singen wir wie in den alten Zeiten. Hier singen alle. Nach einer Zeit hört sich's irgendwie nur noch wie Schreien an. Hier, hör mal. Hör genau hin, dann kannst du sie schreien hören.«
Es raschelte in der Leitung, als Jerome das Telefon vom Ohr weghielt, damit Jude besser hören konnte. Er hörte einen Krach, wie er ihn noch nie zuvor gehört hatte, fremdartig und grauenerregend, wie das Summen von Fliegen, nur hundertmal lauter, und das Klopfen und Quietschen einer Maschine, einer hämmernden und fauchenden Dampfmaschine. Als er genauer hinhörte, konnte er aus dem Fliegengebrumm Worte heraushören, unmenschliche Stimmen, die »Mutter« riefen, die darum bettelten, dass es aufhören möge.
Jude wollte die nächste Nachricht gleich löschen, umnicht mit noch einem Toten reden zu müssen, da hörte er die Stimme von Arlene Wade, der Haushälterin seines Vaters. Sie war so weit weg von seinen Gedanken gewesen, dass er ein paar Sekunden brauchte, bis er die trällernde, merkwürdig tonlose alte Stimme einordnen konnte, und dann war die kurze Nachricht auch schon fast vorbei.
»Hallo, Justin, ich bin's. Ich wollte dich nur über deinen Vater auf den neuesten Stand bringen. Er ist jetzt seit sechsunddreißig Stunden ohne Bewusstsein. Sein Herz schlägt nur noch sehr unregelmäßig. Hab gedacht, das würde dich interessieren. Er hat keine Schmerzen. Ruf an, wenn du willst.«
Nachdem Jude aufgelegt hatte, stützte er sich auf die Küchentheke und schaute hinaus in die Nacht. Er hatte die Ärmel bis zu den Ellbogen aufgekrempelt. Das Fenster stand offen, ein kühler Luftzug strich ihm über die Haut und trug die Düfte des Blumengartens herein. Frösche quakten.
Im Geist sah Jude seinen Vater vor sich: ausgestreckt auf seinem schmalen Bett, ein alter Mann, ausgezehrt, zerstört, mit ungepflegtem weißem Stoppelbart, die Schläfen grau und eingefallen. Jude glaubte fast, seinen widerlich ranzigen Schweiß riechen zu können, den Gestank des ganzen Hauses, das nach Hühnerscheiße, Schweinen, Aschenbecher und kaltem Rauch roch, nicht nur, aber auch, ein Geruch, der sich in alles hineinfraß, in
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