Blind
aufgeschlitzt, ihr T-Shirt blutverschmiert nein, er weigerte sich einfach, darüber nachzudenken.
Also rührte er sich nicht, sprach nicht und dachte nicht – und die Zukunft kam trotzdem. Bammy klopfte leise an die Tür, und als sie sprach, klang ihre Stimme gedämpft und unsicher.
»Alles okay bei euch?«
Georgia stützte sich auf einen Ellbogen und fuhr sich mit dem Handrücken über die Augen. Jude merkte erst jetzt, dass sie geweint hatte. Sie blinzelte und lächelte schief. Trotzdem war das Lächeln echt, nicht vorgetäuscht, obwohl er sich um alles in der Welt nicht vorstellen konnte, worüber sie hätte lächeln sollen.
Die Tränen hatten ihr Gesicht sauber gewaschen. Das Lächeln in seiner natürlichen, mädchenhaften Ernsthaftigkeit war herzzerreißend. Es schien zu sagen: Was soll's, manchmal läuft es eben beschissen. In diesem Moment begriff er, dass sie das, was sie in dem Spiegel gesehen hatten, für eine Vision hielt, für etwas, was ihnen zustoßen würde und dem sie vielleicht nicht entrinnen konnten. Der Gedanke ließ Jude erschauern. Nein. Eher sollte Craddock ihn allein erwischen und die Sache damit beenden, als dass Georgia einen blutigen Tod sterben musste. Warum hatte Anna ihnen das gezeigt, was hatte sie damit bezweckt?
»Liebling?«, sagte Bammy.
»Alles in Ordnung«, rief Georgia.
Schweigen.
Dann: »Ihr streitet euch doch nicht, oder? Ich hab was rumsen gehört.«
»Nein«, sagte Georgia, deren Stimme so klang, als ob sie schon die bloße Vermutung als verletzend betrachtete. »Ehrlich, Bammy. Tut mir leid wegen dem Krach.«
»Na gut«, sagte Bammy. »Braucht ihr irgendwas?«
»Frische Bettwäsche«, sagte Georgia.
Wieder Schweigen. Jude spürte, wie Georgia an seiner Brust wohlig zu zittern anfing. Sie biss sich auf die Unterlippe, um nicht laut loszulachen. Dann musste auch er sich zusammenreißen, um die aufgekratzte Ausgelassenheit, die ihn plötzlich überfiel, im Zaum zu halten. Er steckte sich die Faust in den Mund, während ihn das unterdrückte Lachen innerlich fast zerriss.
»Gott«, sagte Bammy, die sich anhörte, als musste sie jeden Moment ausspucken. »Großer Gott.« Dann hörten sie, wie Bammy sich langsam entfernte.
Georgia ließ den Kopf auf Judes Brust fallen und vergrub ihr kühles, feuchtes Gesicht in seinem Hals. Er nahm sie in die Arme, und sie hielten sich eng umschlungen, während sie vor Lachen fast keine Luft mehr bekamen.
32
Nach dem Abendessen sagte Jude, er wolle ein paar Telefonate erledigen, und ließ Georgia und Bammy im Wohnzimmer allein. Eigentlich hatte er gar keine Anrufe zu machen, aber er wusste, dass Georgia das eine oder andere mit ihrer Großmutter besprechen wollte und dass er dabei nur störte.
Als er vor einem Glas Limonade in der Küche saß und nichts mit sich anzufangen wusste, zog er dann aber doch das Telefon aus der Tasche. Er wählte die Büronummer, um seinen Anrufbeantworter abzuhören. Nach allem, was an diesem Tag passiert war, von der Begegnung mit Craddock im Denny's bis zu der mit Anna in Georgias Zimmer, kam er sich bei dieser so durch und durch alltäglichen Handlung komisch vor. Jude fühlte sich wie losgelöst von der Person, die er gewesen war, bevor er den toten Mann das erste Mal gesehen hatte. Seine Karriere, sein Leben, in geschäftlicher wie künstlerischer Hinsicht, alles, was ihn dreißig Jahre lang völlig in Anspruch genommen hatte, schien keine besondere Bedeutung mehr zu haben. Während er die Nummer wählte, betrachtete er seine Hand, als gehörte sie zu jemand anderem, als wäre er ein passiver Zuschauer, der die Handlungen eines Mannes in einem Theaterstück verfolgte, eines Schauspielers, der seine Rolle spielt.
Es waren fünf Nachrichten aufgezeichnet worden. Die erste war von Herb Cross, seinem Steuerberater und Manager. Herbs sonst so ölige, selbstzufriedene Stimme klang in der Aufzeichnung rau, aufgewühlt.
»Nan Shreve hat mir gerade erzählt, dass man Danny Wooten heute Morgen in seiner Wohnung tot aufgefunden hat. Anscheinend hat er sich aufgehängt. Du kannst dir sicher vorstellen, wie entsetzt wir alle sind. Ruf mich bitte gleich zurück, okay? Wo bist du überhaupt? Kein Mensch hat eine Ahnung, wo du steckst. Bis dann.«
Ein Officer Beam ließ wissen, dass man Jude im Polizeirevier von Piecliff wegen einer wichtigen Sache sprechen wolle, und er möge doch zurückrufen. Eine weitere Nachricht war von Nan Shreve, seiner Anwältin, die sagte, sie kümmere sich um alles und dass die
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