Blind

da?«
    Der Zeiger setzte sich wieder in Bewegung. Jude sagte nichts mehr, sondern beobachtete nur noch den Zeiger, der von Buchstabe zu Buchstabe eilte, bei jedem kurz innehielt und dann weiterhuschte.
    Bringst. Du. Mich. Rüber.
    »Ja«, sagte Georgia. »Wenn ich kann. Ich werde die Tür sein und dich rüberbringen, dann kannst du ihn aufhalten.«
    Schwörst. Du. Es.
    »Ich schwöre es«, sagte Georgia. Ihre Stimme war flach, gepresst, angespannt vor Angst. »Ich schwöre, ich schwöre, Gott, ja, ich schwöre es. Egal, was ich tun muss. Nur weiß ich nicht, was ich tun muss. Sag mir, was ich tun muss, dann tu ich's, egal, was.«
    Hast. Du. Einen. Spiegel. Marybeth.
    »Warum?«, sagte Georgia. Dann blinzelte sie, und dieAugäpfel rollten wieder nach unten. Mit verhangenen Augen schaute sie sich im Zimmer um. Sie drehte den Kopf zur Frisierkommode. »Da ist ein …«
    Sie kreischte, riss die Hand von der Planchette und hielt sich den Mund zu, um den Schrei zu ersticken. Im selben Augenblick sprang Angus auf und fing an zu bellen. Er stand auf dem Bett und starrte auf den gleichen Punkt wie Georgia. Jetzt drehte sich auch Jude um, wobei seine Hand den Zeiger verließ, der daraufhin von selbst um die eigene Achse wirbelte – wie ein junger Draufgänger auf seiner Enduro.
    Der Spiegel der Frisierkommode war so nach vorn gekippt, dass Georgia, Jude und das Ouija-Brett zu sehen waren. Nur dass im Spiegel Georgias Augen mit schwarzem Mull verbunden waren, ihre Kehle aufgeschlitzt war und wie ein obszönes, weit aufgerissenes rotes Maul aussah und von ihrem T-Shirt das Blut triefte.
    Angus und Bon sprangen im gleichen Augenblick vom Bett. Bon stürzte sich knurrend auf die Planchette, packte mit dem Maul zu, wie sie vielleicht eine auf ihren rettenden Bau zuhechelnde Maus packen würde, und zermalmte den Plastikzeiger.
    Angus stürzte sich auf die Frisierkommode. Mit den Vorderpfoten auf der Platte bellte er wütend das Gesicht im Spiegel an. Durch die Wucht seines Gewichts kippte die Kommode auf ihren Hinterbeinen gegen die Wand, worauf der schwenkbare Spiegel nach hinten kippte und nun zur Decke zeigte. Angus' Vorderbeine plumpsten wieder nach unten, und in der nächsten Sekunde krachten auch die Vorderbeine der Kommode wieder auf den Boden. Der Spiegel schwang nach vorn, und Georgia war wieder zu sehen. Und zwar nur sie. Das Blut und die schwarze Augenbinde waren verschwunden.
    31
    Jude und Georgia streckten sich in der Kühle des Spätnachmittags auf dem Einzelbett aus. Da es für sie beide zu schmal war, musste sich Georgia auf die Seite und ein Bein über Jude legen. Sie schmiegte ihr Gesicht an seinen Hals, und Jude spürte ihre kalte Nasenspitze auf der Haut.
    Er war wie betäubt. Er wusste, dass er über das, was gerade passiert war, nachdenken musste, aber irgendwie fanden sein Gedanken nicht zurück zu dem Bild, das er im Spiegel gesehen hatte, fanden nicht zurück zu dem, was Anna ihnen versucht hatte zu erklären. Seine Gedanken weigerten sich. Sie wollten sich wenigstens für kurze Zeit nicht mit dem Tod beschäftigen. Jude fühlte sich erdrückt vom Tod, spürte, dass er überall lauerte, spürte ihn auf seiner Brust, jeder Tod ein Stein, der auf ihm lastete, der ihm die Luft aus dem Leib presste: Annas Tod, der von Danny, Dizzy und Jerome, die Möglichkeit, dass es auch ihn und Georgia bald treffen könnte. Er konnte sich nicht bewegen, so sehr lastete das Gewicht all dieser Tode auf ihm.
    Solange er sich nicht rührte und nichts sagte, dachte Jude, könnten er und Georgia vielleicht auf ewig in diesem stillen Augenblick verharren, mit den flatternden Rollos vor dem Fenster und dem matten wogenden Licht, das sie umhüllte. Welches Unheil auch immer als Nächstes auf sie wartete, es würde sie nie erreichen. Solange er in dem schmalen Bett liegen blieb, mit Georgias kühlem Oberschenkel auf ihm, mit ihr an seiner Seite, hätte die unvorstellbare Zukunft keine Gelegenheit,ihnen das Messer in den Rücken zu stoßen. Noch nie hatte er solche Angst gehabt. Er hatte nicht gewusst, dass Angst einen Menschen so leer und bewegungsunfähig machen konnte. Er spürte einen sonderbaren Schmerz in der Brust, ein kühles, trockenes Prickeln, das seine Ängste nur noch verschlimmerte. Viele Männer hatten mit vierundfünfzig Schlaganfälle und fielen tot um … noch eine Methode, wie Craddock gewinnen, wie er ihn erwischen konnte. Die Toten ziehen die Lebenden nach unten. Im Spiegel war Georgia tot gewesen, ihre Kehle