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Blind

Blind

Titel: Blind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joe Hill
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singen.
    Während Ruth auf den Zaun zuging, geriet Jude in Panik. Als beobachtete er ein Kind, das sich ahnungslos einem viel befahrenen Highway näherte. Er wollte rufen, aber er konnte nicht, er konnte nicht einmal atmen.
    Dann erinnerte er sich daran, was Georgia ihm über Ruth erzählt hatte. Menschen, die die kleine Ruth sahen, wollten ihr immer etwas zurufen, wollten sie vor der Gefahr warnen, wollten ihr sagen, dass sie weglaufen solle. Aber niemand brachte ein Wort heraus. Ihr Anblick schlug jeden so in den Bann, dass er nicht sprechen konnte. Plötzlich kam ihm der absurde Gedanke, dass dieses kleine Mädchen jedes Mädchen war, das er jemals gekannt hatte, jedes Mädchen, dem er niemals hatte helfen können: Sie war Anna und Georgia gleichzeitig. Wenn er nur ihren Namen aussprechen, ihre Aufmerksamkeit erregen, ihr ein Zeichen geben könnte, dass sie sich in Gefahr befand, dann wäre alles möglich. Er und Georgia könnten den toten Mann besiegen und sich aus ihrer aussichtslosen Lage doch noch befreien.
    Aber Jude fand seine Stimme nicht. Es raubte ihm den Verstand, einfach dastehen und zuschauen zu müssen, ohne ein Wort herausbringen zu können. Er schlug mit der verbundenen, der verletzten Hand auf die Küchentheke, spürte, wie ihm der Schmerz durch die Wunde in der Handfläche schoss, und war doch unfähig, auch nur einen einzigen Laut durch die enge Kehle zu pressen.
    Der Schlag auf die Küchentheke ließ Angus, der neben Jude stand, zusammenzucken. Er hob den Kopf und leckte nervös über Judes Handgelenk. Angus' raue, warme Zunge auf der nackten Haut schreckte Jude auf. Sie war so unmittelbar und real, dass er so schnell und ruckartig aus seiner Lähmung erwachte, wie erst vor wenigen Augenblicken Georgias Lachen seine Hoffnungslosigkeit vertrieben hatte. Luft strömte in seine Lunge, und er rief durch das Fenster in den Garten.
    »Ruth!« Und sie wandte den Kopf um. Sie hörte ihn. Sie hörte ihn tatsächlich. »Weg da, Ruth! Lauf zum Haus! Sofort!«
    Ruth schaute wieder zu dem dunklen, leeren Weg und machte dann einen unsicheren Schritt zum Haus hin. Doch bevor sie den nächsten Schritt machte konnte, bewegte sich ihr schlanker weißer Arm in die Höhe, als hinge ihr linkes Handgelenk an einer unsichtbaren Schnur und jemand zöge daran.
    Aber das war keine unsichtbare Schnur, es war eine unsichtbare Hand. Und im nächsten Augenblick löste sich ihr Körper vom Boden und wurde von jemandem, der nicht da war, in die Luft gehoben. Die langen, dünnen Beine schlackerten hilflos in der Luft, eine Sandale rutschte ihr vom Fuß und verschwand in der Dunkelheit. Sie schlug um sich, wehrte sich, während sie einen halben Meter über dem Boden schwebte und stetig weiter zum Zaun gezogen wurde. Hilflos, mit flehendem Gesichtsausdruck, die Augen hinter den schwarzen Flecken verborgen, schaute sie zu Jude, während unsichtbare Mächte sie über den Lattenzaun zogen.
    »Ruth!«, brüllte er wieder. Seine Stimme klang so gebieterisch wie früher, wenn er von der Bühne herunter seine Legionen befehligt hatte.
    Sie wurde den Weg entlanggezerrt, und ihr Körper begann langsam zu verblassen. Das Kleid war jetzt grau-weiß kariert, die Haare schimmerten jetzt mondsilbern.Als ihr die andere Sandale vom Fuß rutschte, in eine Pfütze fiel und verschwand, bewegten sich kräuselnde Wellen über die flache, schlammige Pfütze – als wäre die Sandale aus der Vergangenheit in die Gegenwart gefallen. Ruth konnte nicht schreien, obwohl sie den Mund aufgerissen hatte. Jude wusste nicht, warum. Vielleicht hielt ihr das unsichtbare Wesen, das sie wegzerrte, mit einer unsichtbaren Hand den Mund zu. Dann schwebte sie durch den grellen blauen Lichtkegel der Laterne und war verschwunden. Der Wind wehte eine Zeitung auf, die über den verlassenen Weg wirbelte und dabei trocken flatternde Geräusche machte.
    Angus winselte und leckte ihm wieder über die Hand. Jude starrte geradeaus. Er hatte einen schlechten Geschmack im Mund und spürte einen Druck auf den Ohren.
    »Jude«, flüsterte Georgia.
    Er schaute auf ihr Spiegelbild im Fenster über dem Spülbecken. Schwarze kritzelige Linien tanzten vor ihren Augen. Auch vor seinen Augen. Sie waren beide tot. Sie hatten nur noch nicht aufgehört, sich zu bewegen.
    »Was ist passiert, Jude?«
    »Ich habe sie nicht retten können«, sagte er. »Ruth. Ich hab gesehen, wie man sie weggeschleppt hat.«
    Er konnte Georgia nicht sagen, dass mit Ruth auch seine Hoffnung, dass sie beide sich

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