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Blind

Blind

Titel: Blind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joe Hill
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Vorhänge, Wolldecken, Tapeten. Als Jude sich schließlich aus Louisiana davongemacht hatte, war er nicht nur vor seinem Vater, sondern auch vor diesem Geruch geflohen.
    Er war gelaufen und gelaufen und gelaufen, hatte Musik gemacht, hatte Millionen gemacht und hatte sein ganzes Leben lang versucht, sich so weit wie nur irgend möglich von dem alten Mann zu entfernen. Und jetzt fehlte nicht viel, und er und sein Vater würden am selbenTag abtreten. Sie könnten gemeinsam auf der Straße der Nacht gehen. Oder sonst wie unterwegs sein. Sie könnten sich den Beifahrersitz in Craddock McDermotts rauchblauem Pick-up teilen. Sie würden so eng nebeneinander sitzen, dass Martin Cowzynski eine seiner hageren Klauen auf Judes Nacken legen könnte. Sein Geruch würde sich im Wagen ausbreiten. Der Geruch von zu Hause.
    Es würde riechen wie in der Hölle: sie beide, Vater und Sohn, neben dem abscheulichen Fahrer mit dem silbrigen Bürstenschnitt und dem Johnny-Cash-Anzug und Rush Limbaugh im Radio. Wenn irgendwas die Hölle war, dann Wortradio – und Familie.
    Aus dem Wohnzimmer hörte er Bammys leise plaudernde Stimme. Georgia lachte. Jude wandte den Kopf in Richtung des Geräuschs und wunderte sich, dass er automatisch lächeln musste. Wie sie sich über etwas kaputtlachen konnte, bei all dem Schlamassel, den sie am Hals hatten, nach allem, was sie erlebt und gesehen hatten, war ihm unbegreiflich.
    Ihr Lachen war das, was er mehr als alles andere an ihr schätzte – die tiefe, chaotische Musikalität, die Art, wie sie vollkommen darin aufgehen konnte. Ihr Lachen rührte ihn an, es lockte ihn aus der Reserve. Auf der Uhr an der Mikrowelle war es jetzt kurz nach sieben. Er würde gleich zurück ins Wohnzimmer gehen, sich noch mit ein paar lockeren, nichtssagenden Sätzen an ihrem Gespräch beteiligen und Georgia dann, nach zwei, drei Minuten, mit einem vielsagenden Blick zur Tür zum Aufbruch drängen. Draußen wartete die Straße auf sie.
    Er wandte sich gerade von der Küchentheke ab, als ein Geräusch von draußen seine Aufmerksamkeit erregte, eine flotte, nicht ganz taktsichere Singstimme: Bye-bye, Bay-bee. Er drehte sich um und schaute wieder in den Garten.
    Der hinterste Winkel des Gartens wurde durch eineLaterne auf dem Weg dahinter beleuchtet. Sie tauchte den Gartenzaun, die große, dicht belaubte Eiche und das an einem ihrer Äste herabhängende Seil in ein bläuliches Licht. Ein kleines Mädchen, vielleicht sechs oder sieben Jahre alt, hockte im Gras unter dem Baum. Sie trug ein einfaches rot-weiß kariertes Kleid, ihr dunkles Haar war zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Sie sang für sich selbst diesen alten Dean-Martin-Song … time to hit the road to dreamland, digya in the land of nod. Sie pflückte eine Pusteblume, holte Luft und blies. Die Schirmflieger stoben auseinander, hundert schwebende weiße Schirmchen, die in die Dunkelheit aufstiegen. Eigentlich hätte man sie gar nicht sehen dürfen, aber sie hingen in der Luft wie mattweiße, kalt leuchtende Funken. Das Mädchen hatte den Kopf erhoben, sodass es fast so aussah, als schaute sie den am Fenster stehenden Jude direkt an. Aber man konnte sich nicht sicher sein. Da waren nämlich diese schwarzen Flecken, die flackernd vor ihren Augen schwebten.
    Es war Ruth. Ihr Name war Ruth. Bammys Zwillingsschwester, die in den Fünfzigern verschwunden war. Ihre Mutter hatte sie zum Mittagessen ins Haus gerufen. Bammy war gekommen, aber Ruth hatte weiter draußen rumgetrödelt. Man hatte sie nie wiedergesehen … nicht lebend.
    Jude öffnete den Mund. Er wollte irgendetwas sagen, was, das wusste er nicht. Aber er war unfähig, ein Wort herauszubringen. Die Luft steckte in seiner Brust. Und da blieb sie.
    Ruth hörte auf zu singen, und die Nacht verstummte. Nichts, nicht einmal die Frösche und Insekten waren noch zu hören. Das kleine Mädchen wandte den Kopf um und schaute zu dem Weg, der hinter dem Haus vorbeiführte. Sie lächelte und machte eine kurze winkende Handbewegung, so als hätte sie gerade jemanden gesehen,jemanden, den sie kannte, irgendeinen freundlichen Bekannten aus der Nachbarschaft. Nur dass da niemand war. Ein paar lose Zeitungsseiten klebten auf dem Pflaster, Glasscherben lagen herum, zwischen den Backsteinen wuchs Unkraut. Ruth richtete sich auf und ging langsam zum Zaun. Ihre Lippen bewegten sich, sprachen tonlos mit einem Menschen, der nicht da war. Ab wann hatte Jude ihre Stimme nicht mehr hören können? Seit sie aufgehört hatte zu

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