Blinde Angst
dort hatten sich Leute zusammengerottet und zogen als Mob durch die Straßen.
Sie stiegen aus dem Bus und begaben sich zum Hotel Les Bonnes Nouvelles in die Rigaud Street in Pétionville. Drinnen lenkte Carol sie in eine verrauchte Kneipe mit einem Dutzend alter Tische.
Das Lokal war fast voll. Hier verkehrten wahrscheinlich Ärzte und Entwicklungshelfer, Lehrer und Ingenieure, Journalisten und Diplomaten, und zweifellos auch Waffenschieber, Drogenschmuggler und gierige Politiker.
Carol sah sich nach jemandem um, der sich besonders für sie interessierte, doch ihr fiel niemand auf. Nicht die wohlhabenden Afrikaner mit ihren Whiskeys und ihren kubanischen Zigarren, nicht die weißhaarige Oma mit ihrer Zigarette und einer Plastiktüte vor ihr auf dem Tisch. Auch nicht die pausenlos lächelnden jungen Italiener, der schmeichlerische Amerikaner mit dem Panamahut oder die drei Europäer mit den langen Zigaretten, von denen einer seinen Koffer mit dem Fuß gegen das Tischbein drückte, um sicherzugehen, dass er blieb, wo er war.
Ein Mann trat aus der Lobby in die Bar ein. Er war ungefähr Mitte dreißig und mit Designerjeans und Jeansjacke über einem Miami-Dolphins-T-Shirt leger bekleidet. Er sah sich um, dann fiel sein Blick auf ihren Tisch in der Ecke, und er kam durch die Menge auf sie zu.
»Er ist da«, flüsterte Carol und stand auf.
»Oberst Deaken?«, fragte sie leise und streckte ihm die Hand entgegen.
Deaken nickte, schüttelte ihr die Hand und setzte sich auf einen Platz in der Ecke, von wo er die Tür im Blick hatte. An dem Notausgang hinter ihm war ein Schild angebracht, auf dem »Sans Issue« stand, »kein Ausgang«.
»Mrs. Moore?«, fragte er und streckte ihr die Hand entgegen.
»Miss«, sagte sie.
»Ich weiß von Mrs. Bishop«, begann er mit müder Stimme, »aber wer sind Sie?« Seine Stimme war nicht unfreundlich, aber die Frage kam ein wenig abrupt.
»Ich bin eine spirituelle Freundin von Mrs. Bishop.«
»Spirituell«, wiederholte er und sah sie etwas merkwürdig an. »So wie ein Priester oder ein Pfarrer?«
»Etwas mehr Mystisches, würde ich sagen.«
»Und Sie wollen sich mit der Frau des ermordeten Mannes treffen, der in Tiburon gefunden wurde.«
»Wir hoffen, dass die Witwe es uns erlaubt, den Toten zu sehen. Wie Sie wissen, könnte dieser Mann Mrs. Bishops Tochter gesehen haben, bevor er ermordet wurde.«
»Bei uns leben die meisten Leute nach dem Voodoo-Glauben, Mrs. Bishop. Wenn sich der Priester um die Leiche kümmert, dann könnte es sein, dass man Sie nicht in ihre Nähe lässt.«
»Wir können wenigstens der Witwe unser Beileid aussprechen.«
»Ja«, antwortete er. »Ich habe Interpol gesagt, dass ich es versuchen werde.«
Der Oberst sah sie einige Augenblicke zögernd an. »Verzeihung, Miss Moore«, sagte er schließlich, »aber Sie sehen wohl nicht gut, nicht wahr?«
»Das stimmt«, antwortete sie lächelnd. »Ich bin blind, Oberst.«
Irgendetwas sagte ihr, dass er es bereits gewusst hatte.
Der Polizeioberst faltete die Hände. »Das Dorf Tiburon liegt im äußersten Südwesten des Landes. Es führt nur eine Straße über Les Cayes dorthin, sie verläuft an der Südküste. Es gibt dort in dieser Jahreszeit immer wieder Schlammlawinen, aber die Behörden achten schon einigermaßen darauf, dass die Straße befahrbar bleibt. Präsident Préval hat jedenfalls versprochen, dass er sich sehr für einen sicheren Tourismus in Haiti einsetzt«, fügte er sarkastisch hinzu. »Wenn wir sofort aufbrechen, kommen wir vor Mitternacht in Tiburon an.«
»Ich möchte nur noch kurz auf die Toilette und einen Anruf machen«, sagte Sherry.
23
Haiti
Aleksandra saß im Dreck und starrte auf die Holztür ihrer Zelle. Sie war jetzt allein. Alle anderen Zellen waren leer.
Sie würden sie bald umbringen. Sie wusste, was der Mann, der überall Löcher in die Wände bohrte, tun würde. In ihrer Zeit bei den Streitkräften hatte sie manchmal gesehen, wie Brücken gesprengt wurden. Sie wusste auch, dass Bedard das alles genoss.
An dem Tag, als sie in das Schloss gekommen war, war es ihr gelungen, einen von Bedards Wächtern zu entwaffnen, als sie sie vom Lastwagen herunterholten. Sie hatte den Mann mit einem Arm am Hals gepackt und ihm seine Pistole unter das Kinn gesetzt. Langsam hatte sie sich rückwärts von den anderen wegbewegt, als plötzlich Bedard an seinen Männern vorbei nach vorn trat.
Die anderen fuchtelten hilflos mit ihren Gewehren und wussten nicht, was sie tun sollten.
Bedard
Weitere Kostenlose Bücher