Blinde Angst
Meeresniveau auf 900 Meter hinaufführte. Am Straßenrand war nichts, was einen unvorsichtigen Fahrer davor bewahrt hätte, mit seinem Wagen in einen tiefen Abgrund zu stürzen.
Nicht dass die Straße auf den Berg stark befahren gewesen wäre. Der Morne Mansinte war ein Ort für die Kranken und die Toten, eine Ansammlung von primitiven Hütten, in denen vor allem Sargmacher und Totengräber lebten, aber auch der hiesige Priester, der Hungan, der gleich neben dem Friedhof wohnte.
Hettie Baker war selten auf dem Berg gewesen, seit sie Pioche geheiratet hatte, obwohl ihre Vorfahren seit zwei Jahrhunderten unten im Dorf gelebt hatten und immer zum Hungan gegangen waren, wenn sie eine Medizin brauchten. Es war Pioches ausdrücklicher Wunsch, dass ihre Tochter eine gute Ausbildung bekam und die Hilfe in Anspruch nahm, die von ausländischen Missionaren und Entwicklungshelfern, etwa jenen von World Freedom, angeboten wurde. Pioche wollte, dass Yousy eines Tages diese Insel des Todes und der Verzweiflung verließ.
Pioche gehörte zu den wenigen hier in Haiti, die eine gute Ausbildung genossen hatten. Er hatte die staatliche Universität absolviert und wurde im Jahr 1979 von Reynolds Metals ausgewählt, um auf der Südhalbinsel als Sprengingenieur im Tagebau geschult zu werden. Die Bauxitminen wurden 1986 geschlossen, und Reynolds verließ das Land, sodass Pioche ohne Arbeit dastand, doch als gelernter Sprengingenieur bekam er immer wieder Aufträge.
Wahrscheinlich hätte er weiter ganz gut damit verdient, gelegentlich für ausländische Firmen in Haiti zu arbeiten, doch er wollte nicht, dass seine Tochter in den gefährlichen Straßen von Port-au-Prince oder Cap-Haitien oder Les Cayes aufwuchs. Er wollte, dass sie fernab von all den politischen Unruhen größer wurde – und das Dorf Tiburon, aus dem seine Frau stammte, war so weit weg von der Zivilisation, wie man in Haiti nur sein konnte.
Doch es ging Pioche nicht nur darum, seine Tochter vor Unruhen und Krawallen zu schützen. Er wollte vor allem, dass sie über die Grenzen von Haiti hinausblickte, dass sie die alte Tradition des Aberglaubens hinter sich ließ. Sie sollte erkennen, dass es da draußen eine ganz andere Welt zu entdecken gab. Sie sollte die Welt als Ganzes verstehen lernen, bevor sie sich mit ihrem eigenen kulturellen Erbe auseinandersetzte. Und so erzog Hettie ihre Tochter im christlichen Glauben, während Pioche durch das Land fuhr, um Arbeit zu suchen. Er war ein fleißiger Mann und nahm jeden Job an, den er finden konnte, auch wenn es sich um niedere Tätigkeiten handelte. Hettie wusste, dass er so manchen eigenen Traum geopfert hatte, um alles dafür zu tun, dass es seine Tochter einmal besser hatte als er. Sie fand sich damit ab, dass sie ihren Mann nur wenige Tage im Monat sah, und kümmerte sich, seinem Wunsch entsprechend, darum, dass Yousy bei den Jesuiten in Port-à-Piment zur Schule ging. Und sie tat ihr Möglichstes, um Yousy von den alten Riten abzuschirmen, auch wenn sie selbst keine Christin war. Sie glaubte nach wie vor an Voodoo.
Sie sah Pioche immer noch vor sich, wie er mit dem Bild seines Vaters im Schoß auf dem Bett saß, wie er mit Yousy spielte oder am Motor seines alten Pick-ups herumbastelte.
Doch dann wurde Pioche ermordet, und jemand hinterließ eine Voodoo-Puppe an seinem toten Körper, und jetzt konnte nur noch der alte Hungan auf dem Berg seine Seele retten. Hettie hatte sich mit einiger Sorge gefragt, ob der alte Priester bereit sein würde, den Toten von dem Fluch zu befreien, nachdem sie beide in all den Jahren nie zu ihm gekommen waren – aber es blieb ihr nichts anderes übrig, als ihn zu fragen. Dies war etwas, womit sie nicht zu den Jesuiten gehen konnte. Die Jesuiten würden die Macht dieser Puppe nicht verstehen und nicht glauben, dass Pioches Seele Gefahr lief, für alle Zeiten von einem Bokor versklavt zu werden.
Sie sah aus dem Fenster. Der Hafen lag grün vor ihr, und die Wellen schlugen sanft gegen den weißen Strand. Normalerweise würden ständig Nachbarn zu ihr kommen; es gab immer etwas zu essen in Hetties Häuschen – Maisbrei und gebratene Bananen, gesalzenen Fisch, Bohnen und Reis. Pioche hatte dafür gesorgt, dass sie immer etwas Leckeres auf den Tisch stellen konnte, was hier im Dorf keineswegs selbstverständlich war. Aber Hetties Nachbarn kamen nicht mehr so gern vorbei wie vorher, als Pioche noch gelebt hatte.
Dies lag natürlich daran, dass Pioches Mörder den Toten vor seinem Haus auf
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