Blinde Angst
er davon hielt, dass sie nach Haiti gereist war; es hatte ihn nur sehr wenig besänftigt, dass der Polizeioberst sie auf der Fahrt durch das Land begleiten würde. Brigham war der einzige Mensch auf der Welt, von dem sie es sich gefallen ließ, dass er sich so um sie sorgte. Jetzt kam es ihr vor, als hätte sie ihn allein gelassen, nachdem sie ihn zuvor überredet hatte, sie auf dieser Reise zu begleiten. Brigham hatte morgen wieder seine Vorlesungen. Er würde dafür sorgen müssen, dass jemand für ihn einsprang. Wenn er sich doch nur ein bisschen entspannen und amüsieren könnte.
Sherry lächelte.
Es war schon seltsam, aber irgendwie schien es gar nicht zu Garland Brigham zu passen, dass er sich amüsierte. Man konnte über ihn sagen, dass er zufrieden war, und es kam auch vor, dass er vergnügt war, aber er war kein Mensch, der sich amüsierte.
Ihre Gedanken führten sie zu der Überlegung, wie Brighams früheres Leben in der Navy wohl gewesen sein mochte. Als sie in das große Haus neben ihm am Delaware River zog, war er erst wenige Monate im Ruhestand. Brigham hatte sich in der Navy offenbar ausgezeichnet -schließlich wurde man nicht einfach so Admiral –, doch was genau er geleistet hatte, davon hatte sie keine Ahnung. Sie wusste fast gar nichts über sein früheres Leben. Es war schwer, sich irgendwelche anderen Seiten an ihm vorzustellen – wie er etwa als junger Mann den Drill der Ausbildung durchmachte, bis er schließlich für ganze Flotten verantwortlich war. Er musste im Laufe der Jahre Freunde gewonnen haben, die ihm wichtig waren – nicht nur die Leute in seinem monatlichen Frühstücksclub, oder Altherrenclub, wie er ihn auch nannte.
Wenn er Sherry einmal zu einer Weihnachtsfeier an der Universität einlud, fand sie ihn immer in der Bibliothek oder draußen auf der Terrasse mit einer Zigarre – irgendwo, wo er sich von der Menge davonstehlen konnte. Er mochte ja souverän die Flotten befehligt haben, aber in Gesellschaft war er nicht gerade jemand, der gern im Mittelpunkt stand. Dafür war er ein viel zu feinsinniger Mensch. Die Frage war, wie er eine solche Karriere hatte machen können, wenn er sich so unscheinbar verhielt.
Diese Reise nach Haiti machte sie nervös. Auch wenn sie so tat, als wäre es eine harmlose Angelegenheit, war sie sich doch bewusst, wie heikel die Situation war. Carol Bishop machte sich wahrscheinlich weniger Gedanken. Sie dachte an nichts als die letzten Tage ihrer Tochter. Sie würde keinen Augenblick zögern, das Gebäude zu stürmen, in dem ihre Tochter gefangen gehalten worden war, wenn sie auch nur eine Ahnung davon hätte, wo es sich befand. Sherrys Motivation, nach Haiti zu gehen, basierte eher auf den Gedanken an die Schuldgefühle, mit denen sie leben müsste, wenn sie es nicht täte. Sie würde es sich zu leicht machen, wenn sie einfach nach Hause fuhr, ohne es wenigstens zu versuchen, wenn sie es Interpol überlassen würde, die Spur nach Haiti zu verfolgen. Das würde sowieso wahrscheinlich gar nicht passieren. Jedenfalls nicht schnell genug, um Menschenleben zu retten.
Es hatte 33 Grad, als Sherry und Carol Bishop in den Bus nach Haiti stiegen. Anders als normalerweise zeigte Sherry dieses Mal ganz offen, dass sie blind war. Sie stützte sich auf ihren Gehstock und ließ sich viel häufiger von Carol führen, als es nötig gewesen wäre. Sie trug einen Sonnenschild, den sie tief über die Stirn zog, und ihr kastanienbraunes Haar hatte sie eher unvorteilhaft zu zwei Zöpfen geflochten. Carol Bishop trug ein weites Kleid mit Taschen und einen Strohhut, der fast ihr ganzes Gesicht verbarg; außerdem war sie mit Landkarten und einer billigen Kamera ausgerüstet. Sie sahen wie typische Touristen aus, die blind ihrer Reiseroute folgten, ohne sich irgendwelcher Gefahren bewusst zu sein.
Der Bus hielt kaum eine Minute an der Grenze; ein Polizist tat so, als würde er die Passagierliste des Fahrers eingehend studieren, während ein zweiter »Papiere!« rief und im Mittelgang auf und ab ging. Die Leute wedelten kurz mit ihren Pässen, die beiden Polizisten stiegen wieder aus, und der Bus wurde durchgewinkt. Jetzt waren keine Hindernisse mehr zu befürchten, dachte Sherry. Sie würden alles so machen können, wie sie es sich vorgenommen hatten.
Sechs Stunden später näherten sie sich der Hauptstadt. Wenn man durch Haiti fuhr, konnte man das Gefühl haben, dass das Land am Rande eines Bürgerkriegs stand. In den Gassen wimmelte es von armen Menschen, hier und
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