Blinde Angst
erinnerte sich eben auch an die Nächte, als die Lastwagen kamen und man keine Stimmen hörte. Die Wagen wurden in aller Stille entladen, und die Männer trugen ihre Last tief hinein in die Grundmauern des alten Schlosses. Am nächsten Tag kamen die Wächter mit Säcken voll Kalk.
Sie wusste nicht, was die Menschenhändler dazu bewog, das Schloss zu verlassen. Doch sie hatte irgendwie das Gefühl, dass es mit der jungen Jill Bishop zu tun hatte. Ihr Verschwinden musste Dinge ins Rollen gebracht haben, die die Entführer nicht vorhergesehen hatten.
Es war nur ein schwacher Trost, dachte sie – die Händler würden einfach an einen anderen Ort weiterziehen –, doch sie wünschte sich, dass Jill wenigstens wusste, dass sie dafür verantwortlich war, dass dieses schreckliche Gefängnis geschlossen wurde.
Aleksandra sah sich in der Zelle um und dachte an den Sprengstoff, der überall im Keller angebracht wurde. Sie machte sich Sorgen um ihre Freundin Jill, aber gleichzeitig war sie froh, dass sie weg war. Wenigstens würde das Mädchen die Explosion überleben.
24
Haiti
An der Route Nationale 2 ließ sich in gewisser Weise ablesen, wie Haitis Entwicklung in den vergangenen Jahrzehnten verlaufen war. Man sah die Überreste von besseren Zeiten, als Wohnungen und öffentliche Versorgungseinrichtungen für die Menschen gebaut wurden, aber man konnte auch erkennen, dass all diese Bemühungen abrupt zum Stillstand gekommen waren. Überall an der Straße standen halb fertige Häuser, in denen man offensichtlich Not leidende Kinder sah. Frauen wuschen Kleider in Aquädukten, aus denen auch die Maultiere tranken. Im Rinnstein an der Straße flossen ungeklärte Abwässer. Man hatte den Straßenbau zunächst gefördert, dann aber die Arbeiten eingestellt, als immer mehr Korruptionsfälle ans Licht kamen. Alte Maschinen rosteten vor sich hin, nachdem die Leute mithilfe von Brechstangen alle Schläuche, Hebel, Rohre und sonstigen Teile entfernt hatten, die noch irgendwie verwendbar waren.
Oberst Deaken wirkte seltsam zerstreut, dachte Sherry, so als wäre er nicht wirklich bei der Sache. Wenige Minuten vor Pétionville musste er plötzlich aussteigen, um einen Anruf zu erledigen. Vielleicht hatte es mit seiner Arbeit zu tun – dennoch fragte sich Sherry, warum er es nicht vor ihnen besprechen konnte. Wenig später begann er Carol Bishop nach ihrer Tochter auszufragen.
Als Carol ihm erzählte, dass Jill in einem Leichenhaus in Jamaika lag, war er sichtlich überrascht. Er hatte es nicht gewusst. Niemand hatte es ihm gesagt. Dann fragte er sie nach ihrem Aufenthalt in der Dominikanischen Republik am Vortag. Er wollte wissen, ob irgendjemand sie zur Grenze begleitet hatte und auf der anderen Seite auf sie wartete.
Sherry saß auf dem Rücksitz und dachte an Brigham. Sie wünschte sich plötzlich, sie hätte seine Sorge um ihre Sicherheit ernster genommen. Sie mochte es nicht, wenn andere die Dinge für sie in die Hand nahmen oder sie zu sehr umsorgten, doch sie hatte jetzt das Gefühl, dass sie in dem Bestreben, ihre Unabhängigkeit zu verteidigen, seine berechtigten Warnungen ignoriert hatte.
Sherry faltete die Hände im Schoß, während sie immer wieder durchgeschüttelt wurde, wenn der Jeep durch ein Schlagloch holperte.
Wenn man etwas verliert, gewinnt man oft etwas dafür. Wenn man einen seiner fünf Sinne verliert, gewinnt man vielleicht einen neuen, oder es wird ein anderer schärfer als vorher. Sherry hatte jedenfalls ein gutes Gespür für das, was Menschen ausstrahlten, zumindest behaupteten ihre Freunde das von ihr. Sie nahm oft feinste Schwingungen wahr, und so fragte sie sich jetzt, was sie an Oberst Deaken so beunruhigte.
Als er sie aufforderte, ihre Handys abzugeben, wusste Sherry Bescheid.
»... habe ich in meinem Gespräch mit Interpol klar gesagt, dass Sie keine Telefongespräche führen dürfen, bis Sie wieder über der Grenze sind. Das geschieht zu meiner Sicherheit, weil ich ja ein Risiko eingehe, wenn ich Sie begleite.«
Sherry kaufte ihm das keine Sekunde lang ab. Irgendetwas stimmte hier nicht.
Dieses Mal hörte sie auf Brigham.
25
Haiti
Die Straße auf den Morne Mansinte war noch im gleichen primitiven Zustand wie in den Tagen, als sie angelegt worden war, um Kanonen den Berg hinaufzubringen, und so wie damals war sie nach wie vor nicht breiter als ein moderner Geländewagen. Wie steil die Erdstraße war, ließ sich daran ermessen, dass sie auf einer Strecke von drei Kilometern von
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