Blinde Goettin
rührte er nicht an, aber er nahm sich noch einmal nach.
»Können ist vielleicht übertrieben«, murmelte sie, verwundert darüber, daß sie sich über seine Frage ärgerte, nachdem sie doch morgens noch genau dasselbe gedacht hatte. »Natürlich kann ich das, ich muß mein Wissen nur ein bißchen aufpolieren«, sagte sie und widerstand der Versuchung, ihre absolute Spitzennote in der letzten Strafrechtsprüfung zu erwähnen.
Sie erzählte die ganze Geschichte. Aus irgendeinem Grund ließ sie jedoch Anwalt Strups Anruf aus. Sie wußte selbst nicht warum. Vielleicht, weil ihr der Gedanke daran unangenehm war. Schon als Kind hatte Karen Borg nur ungern über Dinge gesprochen, die sie schwierig fand. Unheimliches behielt sie lieber für sich. Nicht einmal Nils kam dann richtig an sie heran. Der einzige, der einem Durchbruch je nahegekommen war, war Håkon Sand. Seit er aus ihrem Leben verschwunden war, war sie Weltmeisterin darin, ihre eigenen Angelegenheiten in aller Stille in Ordnung zu bringen, die der anderen jedoch gegen Bezahlung.
Sie waren mit dem Essen fertig, als sie ihre Erzählung beendete. Nils fing an, den Tisch abzuräumen, er schien sich nicht besonders für ihren Bericht zu interessieren. Karen setzte sich in einen Sessel, kippte die Rückenlehne zurück und hörte zu, wie er sich an der Geschirrspülmaschine zu schaffen machte. Schließlich leistete das Gegurgel der Kaffeemaschine dem Scheppern Gesellschaft.
»Der scheint ja eine Todesangst zu haben«, rief er aus der Küche, warf einen Blick ins Wohnzimmer und wiederholte:
»Ich glaube, er hat vor irgend etwas schreckliche Angst!«
Genial. Typisch Nils; sein Talent, mit Selbstverständlichkeiten um sich zu werfen, hatte sie viele Jahre lang entzückt, es wirkte fast wie eine Parodie, wie gewollt. Aber inzwischen war ihr aufgegangen, daß er wirklich glaubte, Dinge zu sehen, für die andere blind waren.
»Natürlich hat er Angst, aber wovor?« Nils erschien mit zwei Tassen Kaffee. »Vor der Polizei fürchtet er sich offenbar nicht«, sagte sie. »Er wollte ja verhaftet werden. Hat sich einfach auf eine verkehrsreiche Straße gesetzt und auf die Polizei gewartet. Aber warum wollte er nichts sagen, nicht zugeben, daß er den Mord am Akerselv begangen hat? Warum fürchtet er sich vor dem Gefängnis, aber nicht vor der Polizei? Und warum in aller Welt will er ausgerechnet von mir verteidigt werden?«
Nils zuckte mit den Schultern und griff nach einer Zeitung. »Das wirst du schon noch herausfinden«, sagte er und vertiefte sich in die Comicseite.
Karen schloß die Augen. »Das werde ich schon noch herausfinden«, wiederholte sie leise und gähnte, während sie ihren Hund hinter dem Ohr kratzte.
DIENSTAG, 29. SEPTEMBER
Karen Borg hatte eine unruhige Nacht hinter sich. Das war aber im Grunde nicht ungewöhnlich. Abends war sie immer müde und schlief sofort nach dem Insbettgehen ein. Das Problem war, daß sie wieder aufwachte. In der Regel passierte das gegen fünf Uhr morgens. Dann war sie schrecklich müde, fand aber den Weg zurück ins Land der Träume nicht. Nachts nahmen alle Probleme Riesenausmaße an, selbst wenn sie tagsüber höchstens undeutliche Schatten waren. Dinge, die sich tagsüber so leicht bagatellisieren ließen – uninteressante, ungefährliche und lösbare kleine Unannehmlichkeiten –, wurden an der Schwelle zwischen Nacht und Tag zu gewaltigen, alles überschattenden Gespenstern, die sie verfolgten. Allzu oft drehte sie sich bis halb sieben von einer Seite auf die andere, dann folgte ein restlos unbrauchbarer, betäubungsähnlicher Schlaf, bis der Wecker sie eine halbe Stunde später hochjagte.
In dieser Nacht war sie um zwei Uhr wach geworden, schweißnaß. Sie hatte in einem Flugzeug ohne Boden gesessen, alle Passagiere hatten ohne Sicherheitsgurte auf kleinen Auswüchsen des Flugzeugrumpfes balancieren müssen. Nachdem sie sich dort angeklammert hatte, bis sie totmüde war, hatte das Flugzeug steil auf den Boden zugehalten. Sie war erwacht, als sie auf den Boden prallten. Träume von Flugzeugabstürzen wiesen angeblich auf fehlende Kontrolle über das Leben hin. Sie fand sich davon nicht betroffen.
Es war ganz einfach ein strahlender Herbsttag. Eine Woche lang hatte es gegossen, aber nun war die Temperatur über Nacht auf fünfzehn Grad angestiegen, und die Sonne machte einen letzten Versuch, daran zu erinnern, daß der Sommer noch nicht so schrecklich lange her war. Das Laub der Bäume auf dem Olaf Ryes Plass war
Weitere Kostenlose Bücher