Blinde Goettin
er das bewundernswerterweise vor der Presse nie bestätigte. Karen Borg war ihm nie begegnet, hatte auch noch nie mit ihm gesprochen. Aber natürlich hatte sie über ihn gelesen.
»Stell ihn durch«, sagte sie nach kurzem Zögern und nahm den Hörer ab, eine unbewußte, respektvolle Geste. »Karen Borg«, sagte sie tonlos.
»Guten Tag, hier spricht Peter Strup, der Anwalt. Ich will dich gar nicht lange aufhalten. Ich habe gehört, daß du einen Niederländer verteidigst, dem der Mord vom Freitagabend zur Last gelegt wird, trifft das zu?«
»Ja, im Grunde schon.«
»Im Grunde?«
»Nein, ich meine, es stimmt, daß ich ihn verteidige, aber bisher habe ich kaum mit ihm gesprochen.«
Unwillkürlich blätterte Sie in den Papieren, die vor ihr lagen, ihre Kopie des Protokolls. Sie hörte Strup lachen, ein charmantes Lachen.
»Seit wann arbeitet ihr denn für 495 Kronen die Stunde? Ich dachte, die vom Staat gezahlten Honorare könnten nicht mal eure Miete decken. Geht es euch so schlecht, daß du uns ins Handwerk pfuschen mußt?«
Sie hielt das nicht für Bosheit. Ihr Stundenhonorar lag bei weit über zweitausend Kronen, je nachdem, wer der Mandant war. Sie mußte selbst ein wenig lachen. »Wir kommen schon zurecht. Es ist purer Zufall, daß ich diesen Knaben übernommen habe.«
»Ja, das habe ich mir im Grunde schon gedacht. Ich habe genug zu tun, aber einer seiner Kumpels hat mich gebeten, dem Kleinen zu helfen. Alter Mandant von mir, dieser Kumpel, und du weißt ja, wir Verteidiger müssen uns um unsere Mandanten kümmern, auch die sind feste Kunden, weißt du!« Wieder lachte er. »Mit anderen Worten: Ich übernehme den Job gern, und ich gehe davon aus, daß du nicht besonders scharf darauf bist.«
Karen Borg wußte nicht so recht, was sie sagen sollte. Die Versuchung, den Fall dem besten Verteidiger des Landes zu überlassen, war groß. Peter Strup würde zweifellos bessere Arbeit leisten als sie selbst. »Danke, das ist nett von dir. Aber er will nun mal unbedingt mich, und eigentlich habe ich ihm das auch versprochen. Ich werde ihm natürlich von deinem Angebot erzählen, und wenn er seine Meinung ändert, rufe ich dich an.«
»Na gut, dann ist das abgemacht. Aber dir ist sicher klar, daß ich bald Bescheid wissen muß. Muß mich in den Fall einarbeiten, weißt du, herausfinden, ob sich etwas machen läßt.«
Sie beendeten ihr Gespräch.
Sie war leicht verwirrt. Obwohl sie wußte, daß es unter Strafrechtlern durchaus üblich war, auf Mandantenklau zu gehen oder vernünftige Anwaltswechsel vorzunehmen, wunderte es sie, daß Peter Strup das nötig hatte. Erst kürzlich hatte sie in der Zeitung gelesen, daß Prozesse jahrelang aufgeschoben wurden, weil die bekannten Anwälte so viel zu tun hatten. In diesem Artikel war Peter Strup als Beispiel genannt worden. Andererseits war es sympathisch, daß er helfen wollte, vor allem, wo ein Kumpel von van der Kerch ihn darum gebeten hatte. Sofort sah sie das Positive in dieser Art Fürsorge. Sie selbst hielt sich sämtliche Mandanten auf Armeslänge vom Leibe.
Karen Borg klappte ihren Ordner zu, sah, daß es schon vier war, beschloß, Feierabend zu machen, und registrierte auf der Tafel über der Rezeption, daß sie heute die erste war. Noch immer meldete sich ihr Gewissen, wenn vor ihr nicht schon mindestens zehn Namen in der Rubrik »Erst morgen wieder im Hause« eingetragen waren. Heute aber verdrängte sie das schnell, spazierte in den Regen hinaus und erwischte die überfüllte Straßenbahn nach Hause.
»Ich habe einen Strafprozeß«, murmelte sie zwischen zwei Bissen Gefrierfisch.
Karen Borg kam aus Bergen. Sie aß in Oslo keinen frischen Fisch. Frischer Fisch durfte nicht länger tot sein als zehn Stunden. Der Achtundvierzigstundenfisch aus der Hauptstadt schmeckte wie Radiergummi, und da war die ehrlich tiefgefrorene Massenware doch vorzuziehen.
»Richtiger ist vielleicht, daß er mir aufgedrängt worden ist«, fügte sie hinzu, nachdem sie fertig gekaut hatte.
Nils lächelte. »Kannst du das denn? Du klagst doch so oft darüber, daß du alles vergessen hast, abgesehen von den Sachen, mit denen du dich seit acht Jahren beschäftigst«, sagte er und wischte sich mit dem Handrücken den Mund ab, eine irritierende Unsitte. In den sechs Jahren, die sie nun schon zusammenwohnten, hatte Karen immer wieder versucht, ihm das abzugewöhnen, indem sie ihn darauf hinwies und indem sie demonstrativ große Servietten neben seinen Teller legte. Die Serviette
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