Blinde Goettin
schon gelbrot, und das Licht war so grell, daß sogar die Pakistaner, die gerade ihre Waren in die kleinen Kioske und den Lebensmittelladen brachten, blaß wirkten. Der Verkehr auf der Toftes gate dröhnte, aber die Luft fühlte sich trotzdem erstaunlich frisch und sauber an.
Als Karen Borg vor fünf Jahren die jüngste und einzige Partnerin von Greverud & Co geworden war, hatten sie und Nils ernsthaft mit dem Gedanken gespielt, aus Grünerløkka wegzuziehen. Sie konnten sich das leisten, und das Viertel hatte sich nicht so entwickelt, wie alle es erwartet hatten – damals, als sie sich als Studentin eine Dreißig-Quadratmeter-Wohnung in einem Abbruchhaus erschlichen hatte, das dann doch der Abrißbirne entkommen war. Die Sanierung hatte aus einer, gelinde gesagt, elenden Renovierung zu einem wahnwitzigen Preis bestanden. Daraufhin hatte sich die Miete innerhalb von drei Jahren verfünffacht, die weniger betuchten Leute hatten ausziehen müssen. Karen Borg aber hatte ihre Wohnung rechtzeitig verkauft und dadurch eine akzeptable finanzielle Grundlage für ihr neues Projekt erwirtschaftet, einen Loft im Nachbarhaus. Dieses Haus war der Sanierung wie durch ein Wunder entkommen; die Bewohner hatten sich bereit erklärt, die für diesen Stadtteil vorgeschriebenen Sanierungsmaßnahmen selbst durchzuführen.
Karen und Nils hatten wirklich Umzugspläne geschmiedet. Aber an einem späten und wunderschönen Samstagabend vor einigen Jahren waren sie ihre Motive durchgegangen. Sie hatten eine Für-und-Wider-Liste aufgestellt. Am Ende waren sie zu dem Entschluß gekommen, für ihr Geld lieber ihre kleine Wohnung zu erweitern. Sie hatten den Rest des Dachbodens aufgekauft, an die zweihundert Quadratmeter. Die fertige Wohnung war schön und teuer. Bereut hatten sie das nie. Nachdem sie beide auf erstaunlich ruhige Weise eingesehen hatten, daß sie keine Kinder bekommen würden – sie hatten ohne irgendein Resultat vier bis fünf Jahre lang auf Verhütungsmittel verzichtet –, hatten sie nach und nach alle Argumente gegen Oslos dreckige Innenstadt vergessen. Sie hatten eine Dachterrasse mit Whirlpool und Grill, ihnen blieb die Gartenarbeit erspart, und sie konnten zum nächsten Kino zu Fuß gehen. Sie hatten zwar ein Auto gekauft, einen Ford Sierra – weil sie es blödsinnig fanden, viel Geld für ein Auto auszugeben, das doch überwiegend in der Garage stand –, aber meistens gingen sie zu Fuß oder nahmen die Straßenbahn.
Karen Borg war in Bergen aufgewachsen. Ihre Jugend war vom ausgefeilten Nachrichtendienst der Hausfrauen geprägt gewesen; Agentinnen, die hinter Gardinen hervorlugten und alles über jedes kleine Vergehen wußten, von ungeputzten Fußböden bis zu außerehelichen Beziehungen. Wenn Karen zweimal im Jahr zwei Tage lang zu Hause auf Besuch war, überkam sie stets eine unerträgliche Klaustrophobie, die sie sich nicht ganz zu erklären vermochte, zumal sie wirklich niemals etwas zu verbergen gehabt hatte. Deshalb empfand sie Grünerløkka als eine Freistätte. Nils und sie waren dort wohnen geblieben und hatten durchaus nicht mehr vor, daran etwas zu ändern. Sie blieb vor dem kleinen Kiosk an der Straßenbahnhaltestelle stehen. Die Boulevardpresse lag in dicken Stapeln in den Fächern.
Brutaler Drogenmord erschüttert die Polizei. Die Schlagzeile sprang ihr geradezu ins Gesicht. Sie packte ein Exemplar, verließ lesend den Kiosk und warf sieben Kronen auf den Tresen, ohne den Verkäufer auch nur anzusehen. Die Straßenbahn hielt gerade. Sie stempelte ihre Streifenkarte und setzte sich auf einen freien Klappsitz. Unter dem Bild der Leiche, die sie selbst vor knapp vier Tagen gefunden hatte, stand: »Der brutale Mord an einem bisher nicht identifizierten Mann von etwa 30 war vermutlich eine Racheaktion im Milieu, meint die Polizei.« Quellen waren nicht angegeben. Die Geschichte stimmte unangenehm mit der überein, die Håkon Sand ihr erzählt hatte.
Sie war wütend. Håkon hatte ihr eingeschärft, daß alles unter ihnen bleiben müsse. Diese Warnung war unnötig gewesen, Karen Borg hegte so gut wie keine Sympathie für die Presse. Um so mehr ärgerte sie sich über die Nachlässigkeit der Polizei. Sie dachte an ihren Mandanten. Durfte er in der Haft Zeitungen lesen? Nein, er hatte Brief- und Besuchsverbot akzeptiert, und Karen Borg glaubte sich zu erinnern, daß damit auch Zeitungen, Radio und Fernsehen verboten waren.
Das wird seine Angst sicher noch steigern, dachte sie und vertiefte sich in den Rest
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