Blinde Seele: Thriller (German Edition)
geschickt«, bemerkte Martinez.
Sam hatte sein iPhone gezückt und machte ein paar Schnappschüsse von den Wänden.
»He«, sagte Chauvin.
»Haben Sie ein Problem?« Sam tippte mit der Fingerspitze auf seine Armbanduhr. »Glauben Sie mir, Sie werden ein großes Problem haben, wenn Sie Ihren Flug verpassen.«
»Das glaube ich Ihnen nicht«, entgegnete Chauvin. »Wenn Sie mich wegen irgendwas festnehmen wollten, hätten Sie es längst getan.«
»Glauben Sie’s mir.« Sam machte weiter Fotos. »Mir wäre es lieber, wenn Sie aus diesem Land verschwinden, als dass Ihr erbärmlicher Arsch im Gefängnis landet und das Geld der Steuerzahler an Sie verschwendet wird. Aber wenn Sie hier noch mehr Zeit vergeuden, kann ich dafür sorgen, dass genau das passiert.«
»Kann ich die mitnehmen?« Chauvin wies mit einem Nicken auf die Wände.
»Na klar.« Sam zuckte die Schultern. »Ich habe jetzt meine eigenen Fotos.«
»Merde flics« , fluchte Chauvin und begann die Bilder abzunehmen, behindert von seinem verletzten linken Arm.
»Was hat er gesagt?« In Martinez’ dunklen Augen funkelte Wut.
Sam grinste. »Scheiß Cops.«
»Muss ich weiterhin höflich sein?«, fragte Martinez.
»Nur noch ein kleines bisschen.«
Chauvin hatte alle Fotos eingesammelt und drehte sich zum Wandschrank um. »Ich hab’s gleich.«
»Vergessen Sie Ihren Pass nicht«, sagte Sam.
149.
George Wiley war seit einiger Zeit zu Hause.
Eine bescheidene Wohnung, die ihm gefiel, in der er sich sicher gefühlt hatte, während er gelesen und studiert und sich auf die nächste Sprosse der Leiter vorbereitet hatte.
Es sollte nicht mehr sein.
Dank Mildred Becket.
Er hatte die Kartoffeln und den Spargel gekocht und die Kalbsleber kurz angebraten, und er hatte den Wein getrunken. Es hatte alles so wunderbar geschmeckt, dass ihm Tränen der Wehmut gekommen waren.
Denn es war seine letzte Mahlzeit.
Er hatte gründlich sauber gemacht, wie es seine Art war.
Dann hatte er sich hingesetzt, um zu lesen.
Doch er kam nicht zur Ruhe, konnte keine perfekte letzte Lektüre finden, war rastlos umhergeschweift, hatte in Sophokles, Shakespeare und Milton geblättert und sich schließlich einem Zitatenlexikon zugewandt, wo er nach Themen suchte, die am ehesten zu seiner Zwangslage und seinen Emotionen passten.
Verlust, Trauer und Wut. Und das Bedürfnis nach Rache oder zumindest danach, dass sein Verlust anerkannt wurde.
Er fand wenig Passendes. Bis auf eine Zeile aus Izaak Waltons Der vollkommene Angler , die seiner persönlichen Wahrheit so nahe kam, dass er vor Selbstmitleid schluchzte.
»Niemand kann verlieren, was er nie hatte.«
Er legte auf dieser Seite ein Lesezeichen ein und widmete sich dann seinem Bedürfnis nach einem Abschluss, nach einer Lektüre eher praktischer Art. Vor allem, um die Entscheidung, zu der er bereits gelangt war, nochmals zu bestätigen.
Er wollte keinen banalen Tod, nichts so Vulgäres wie den Selbstmord seiner Mutter. Was George Wiley, Doktor der Medizin, mit seinem letzten Akt erreichen wollte, war etwas, wodurch er Berühmtheit erlangen würde, wenn auch nur, indem er starb.
Er besaß keine Pistole, und er wollte sich nicht die Pulsadern aufschneiden und jämmerlich verbluten. Ihm fehlte der Mut, von einem hohen Gebäude zu springen oder Harakiri zu begehen; außerdem besaß er kein Schwert, und ein Skalpell wäre einfach nicht das Richtige. Gift machte die Leute hässlich, ebenso Erhängen.
Selbstverbrennung sagte ihm aus mehreren Gründen zu. Erstens wurde es oft als eine Art Opfer angesehen, häufig aus Protest. Er hatte gelesen, dass manche extremen Buddhisten glaubten, es sei ein Beweis für die Missachtung des Körpers zugunsten der Weisheit – dieses Element von Würde gefiel Wiley.
Schließlich musste es, solange er es sorgfältig plante, nicht die entsetzliche Folter sein, die die armen Seelen erlitten hatten, die früher auf dem Scheiterhaufen verbrannt wurden. Auch wenn es zu Beginn äußerst schmerzhaft sein würde, zerstörten Verbrennungen dritten Grades die Nervenenden, und der Tod durch Ersticken und Schock trat im Allgemeinen sehr schnell ein.
Er wollte, dass es Erhabenheit besaß, aber er wollte auch, dass es schnell ging. Der Tod machte ihm kaum Angst, aber ihm graute ebenso sehr vor Schmerzen wie anderen Leuten auch. Er hatte gute und schlechte Tode in Krankenhäusern gesehen, aber in den meisten Fällen hatte es wie eine Erlösung ausgesehen.
Wohingegen die Aussicht auf die Schmach im Gefängnis,
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