Blinde Seele: Thriller (German Edition)
der Schweiz und dann bis nach Florida gefolgt ist.«
»Ich sehe nicht …«
»Aber ich sehe etwas«, schnitt Sam ihm das Wort ab. »Ich sehe, dass Sie heute nach Hause fliegen.«
»Aber die Broward-Detectives sagten, ich müsste vielleicht als Zeuge in einem Prozess wiederkommen«, protestierte Chauvin.
»Und wenn es dazu kommt«, sagte Sam, »bin ich sicher, Sie werden kooperieren, ganz der brave Bürger, der Sie sind. Aber in der Zwischenzeit fliegen Sie nach Hause, und zwar heute.«
»Und damit«, ergänzte Martinez, »werden Sie richtig viel Glück haben und sich darauf beschränken können, im Zeugenstand zu stehen, anstatt neben Ihrem Strafverteidiger zu sitzen.«
»Unter welcher Anklage?« Chauvins Wangen glühten.
»Stalking.« Sam zog ein Blatt Papier aus der Innentasche seiner Jacke und las laut vor. »›Belästigung‹ heißt, einer bestimmten Person gegenüber eine Verhaltensweise zu zeigen, die der betreffenden Person schweres emotionales Leid zufügt und keinem berechtigten Zweck dient.« Er blickte Chauvin fest in die Augen. »Jeder, der vorsätzlich, böswillig und wiederholt eine andere Person verfolgt oder belästigt, macht sich des Stalkings schuldig, ein Vergehen ersten Grades. Soll ich den entsprechenden Gesetzestext zitieren?«
»Nein«, murmelte Chauvin.
»Ich habe hier auch noch einen kleinen Paragrafen, der mir sehr gut gefällt.« Martinez zückte nun seinerseits ein Blatt Papier. »Jeder Polizeibeamte kann ohne Haftbefehl jede Person festnehmen, sofern er einen hinreichenden Grund zu der Annahme hat, die betreffende Person könnte gegen die Bestimmungen dieses Paragrafen verstoßen haben.«
Chauvin schüttelte den Kopf. »Sie behandeln mich wie einen Verbrecher, mich so abzuschieben.«
»Wenn es das ist, worauf Sie warten«, sagte Sam.
Noch ein Kopfschütteln, gefolgt von einem resignierten Schulterzucken. Dann erhob sich Chauvin, wobei er zusammenzuckte. »Ich brauche Medikamente, bevor ich gehe.«
»Dafür ist bereits gesorgt«, erklärte Sam. »Sie liegen in der Apotheke für uns bereit.«
»Brauche ich nicht einen Rollstuhl?«, fragte Chauvin.
»Aber sicher«, sagte Sam. »Klinikvorschriften.«
»Und gegen die wollen wir ja nicht verstoßen.« Martinez stand auf. »Ich besorge Ihnen einen Rollstuhl. Bin gleich wieder da.«
Chauvin blickte Sam an, der noch immer auf der Bettkante saß. »Ich fühle mich verletzt und missverstanden«, sagte er vorwurfsvoll.
»Oh, das tut mir aber leid«, erwiderte Sam.
147.
Dr. George Wiley war gegen Kaution auf freien Fuß gesetzt worden.
Jetzt ging er shoppen.
Das Shoppen hatte ihm noch nie im Blut gelegen – die meisten seiner kostbaren Bücher und Instrumente erwarb er in Auktionshäusern oder im Internet –, und er wunderte sich, wie reizvoll diese eher banale Erfahrung doch war.
Zumal es etwas Besonderes war.
Denn es war das letzte Mal, dass er shoppen gehen würde.
Um Dinge zu kaufen, die er heute Abend und heute Nacht benötigen würde.
Dinge, die ein Arzt normalerweise nicht vorrätig hat.
Essen und Wein.
Für sein Letztes Abendmahl.
Sein perfektes Dinner. Die Art Essen, stellte er sich vor, die sich ein Mann wie Ethan Adams mit einem Nicken seines silbergrauen Kopfes servieren ließ.
Kalbsleber mit frischen Salbeizweigen. Pürierte Yukon-Gold-Kartoffeln. Frischer Spargel. Eine Flasche Pinot Noir.
Während er seine Einkäufe erledigte und dann gemächlich nach Hause fuhr, dachte er über seine Vergangenheit nach.
Über die kleine Gruppe von Leuten, die ihn letztendlich zu diesem Absturz getrieben hatten.
Die ihm – wenn er sie ließ – das Einzige wegnehmen würden, was ihm je wirklich etwas bedeutet hatte.
Der beste Arzt zu sein, der er sein konnte. Und er hatte immer gewusst, dass es Zeit brauchen würde, aber er war auf einem guten Weg gewesen, und er hätte es geschafft.
Wenn sie nicht gewesen wären.
Lieutenant Alvarez und Sergeant Riley, die rothaarige Hexe, die ihm die Handschellen angelegt hatte.
Dr. Ethan Adams, den er so verehrt hatte. Und was hatte dieser Mann getan? Er hatte ihn mit einem einzigen Blick vernichtet.
Mildred Becket, das Miststück.
Und Dr. David Becket. Ein Mann, der ein ganzes Leben als Kinderarzt hinter sich hatte.
George Wiley wäre ein besserer Arzt geworden als Becket, wenn er es im Leben leichter gehabt hätte, wenn er anständige Eltern gehabt hätte, wenn er die Erziehung und Ausbildung genossen hätte, die ihm vorenthalten worden war.
Es war so verdammt
Weitere Kostenlose Bücher