Blinde Voegel
Augen gelassen. Dass er sie beobachtete, ihr Verhalten auslotete, fiel ihr in letzter Zeit immer häufiger auf. Seit dem Fall im letzten Frühjahr schien er … besorgter um sie zu sein. Als befürchtete er, sie könnte noch einmal in eine so lebensbedrohliche Situation geraten.
«Ich muss gehen.» Sie schulterte ihre Tasche und war schon fast aus der Tür, als ihr Handy das Eintreffen einer SMS verkündete.
Moon River, wider than a mile
I’m crossing you in style some day …
Beatrice fühlte ihr Gesicht heiß werden. Hektisch wühlte sie in ihrer Tasche, fand das Telefon und würgte den Ton mit einem Tastendruck ab.
Sie verstand selbst nicht, warum es ihr jedes Mal so peinlich war, wenn Florin mitbekam, dass sie den Klingelton, den er ihr einprogrammiert hatte, nach Monaten noch immer nicht geändert hatte. Warum konnte sie nicht einfach mit einem Scherz über ihre Verlegenheit hinweggehen?
«Schade», hörte sie Florin hinter sich murmeln. «Ich mag das Ende so gern.»
Die Nachricht war von Katrin, der Nachbarstochter, die heute auf die Kinder aufpasste.
Dauert es noch lange?
Beatrice tippte, dass sie schon auf dem Weg sei. «Ich mag das Ende auch», sagte sie halblaut, bevor sie die Bürotür hinter sich schloss.
Spaghetti carbonara rückten Jakobs Welt sichtlich zurecht. Während Mina jedes einzelne Stück Speck mit der Gabel an den Tellerrand verbannte, stürzte er sich mit solcher Begeisterung auf sein Abendessen, dass Beatrice sich wieder einmal schwor, öfter ordentlich zu kochen. Auch wenn ihr eigener Appetit, so wie heute, eher dürftig war.
Sie stützte ihren Kopf auf die Hände und betrachtete ihre Kinder mit einer Mischung aus Stolz und Angst.
Wie war wohl Gerald Pallauf in diesem Alter gewesen? Was hatte ihn zum Einzelgänger gemacht? Was ließ jemanden, der gerade erst achtundzwanzig und rechtlich unbescholten war, mit einem Kopfschuss im Wald enden?
«Ich brauch noch Saft, Mama!» Jakob schwenkte sein Glas, den Mund mit weißer Sauce verschmiert.
«Hol ihn dir gefälligst selbst», folgte prompt Minas ungnädiger Kommentar. «Siehst du nicht, dass Mama müde ist?»
Die gerunzelte Stirn und der herrische Tonfall ihrer Tochter brachten Beatrice zum Lachen. «Vielen Dank, sehr fürsorglich. Aber bis zum Kühlschrank schaffe ich es noch.»
Sie goss den letzten Rest Apfelsaft in Jakobs Glas und füllte es – trotz heftigen Protests – mit Wasser auf.
«So schmeckt das ja nach gar nichts!» Er zog die Mundwinkel nach unten. «Nie können die Sachen so sein, wie ich sie will!»
Gewöhn dich am besten dran, lag es Beatrice auf der Zunge, doch sie bremste sich. Meine Güte, sie würde noch eine verbitterte alte Kuh werden, bevor sie vierzig war.
Stefan saß vor Pallaufs Notebook, umgeben von Papierstößen, leeren Wasserflaschen und malerisch verteilten Chipspackungen. Zwischen seinen Lippen steckte ein Zahnstocher, den er im Takt der Melodie, die er summte, auf- und abwippen ließ. Beatrice glaubte «Love is in the Air» zu erkennen.
Sie schob einen Teil des kreativen Chaos zur Seite und zog sich einen Stuhl heran. «Schon etwas gefunden?»
An der gegenüberliegenden Schreibtischseite hob Bechner, mit dem sich Stefan widerwillig das Büro teilte, den Kopf und seufzte. «Großartig. Wenn das jetzt ein Kaffeekränzchen wird, bin ich weg. Bei Gerlachs Geräuschkulisse kann ohnehin kein Mensch arbeiten.»
Er griff nach einer Aktenmappe und einem grünen Leuchtmarker und verließ grußlos das Büro.
«Wahnsinn, wie der mich nervt», stellte Stefan fest, ohne dass das Lächeln sein Gesicht verließ. «Schlechte Laune, hoch dosiert, jeden Tag. Aber egal.» Er drehte das Notebook so, dass Beatrice eine bessere Sicht auf den Bildschirm hatte.
«Ich gehe gerade Pallaufs E-Mails durch. Sind witzig, zum Teil. Schade, dass er tot ist, ich hätte ihn gut leiden können.»
Die Nachricht, die im Moment geöffnet war, kam von einem gewissen Nils Ulrich, der Pallauf ein Computerspiel namens Torchlight 2 ans Herz legte. Die Mailadresse endete auf .de – vermutlich also ein Deutscher.
«Freu dich nicht zu früh», meinte Stefan, als Beatrice ihn nach einer möglichen Verbindung zu Sarah fragte. «Er hatte massenhaft Kontakte nach Deutschland, in praktisch alle Bundesländer. Ist ja auch ganz normal, geht mir genauso.» Er klickte das Mailprogramm weg, und eine Liste mit dem Titel «Aktivitäten G. Pallauf» erschien.
«Bisher habe ich neun Foren gefunden, in denen er sich herumgetrieben hat.
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