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Blinde Voegel

Blinde Voegel

Titel: Blinde Voegel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula Poznanski
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Er sieht mich an wie ein Gegner, der seine Chancen abschätzt.
    Ich strecke ihm eine Hand entgegen. «Komm raus da.»
    Er überlegt kurz, dann schiebt er seine Schwester auf mich zu.
    «Nein. Nicht sie. Du.»
    In dem Moment, als er sie loslässt, beginnt sie zu schreien. «Nikola, bleib da, Nikola, nein, lass mich nicht allein, Nikoooo–»
    Ich ziehe den Jungen hoch, sein Arm ist sehnig wie der eines Sportlers. «Jetzt sie!», sagt er, kniet sich neben der Grube hin und streckt die Hand nach unten.
    Ich packe ihn am Haar. «Nicht so schnell.»
    «Nikola, geh nicht weg, ich hab Angst, Nikola!» Das Weinen des Mädchens wird schriller und schriller, jeder Ton schärft die Messer, die in meinem Kopf wüten.
    «Ich gehe nicht weg, natürlich nicht.» Der Junge klingt völlig ruhig. Kaum lasse ich sein Haar los, greift er wieder nach unten und umfasst die Hand seiner Schwester.
    «Mama, ich will zu Mama», heult das Mädchen.
    Es sind seine Gelassenheit und meine Kopfschmerzen, dazu die fragenden Blicke der Männer, die den Ausschlag geben. Ich fletsche die Zähne zu einem Lächeln.
    «Wie alt bist du, Nikola?», frage ich ihn auf Deutsch.
    «Fünfzehn.»
    «Und deine Schwester ist sieben?»
    «Ja. Ich passe schon immer auf sie auf.»
    «Na wie schön. Singst du ihr manchmal auch etwas vor?»
    Er mustert mich misstrauisch. «Nicht oft, aber … ja.»
    «Ich weiß nämlich ein Lied, das gerade sehr gut passen würde.» Meine Kopfschmerzen bringen mich noch um, egal, das hier dauert nicht mehr lang. Ich räuspere mich.
    «Häschen in der Grube, saß und schlief, saß und schlief», singe ich. «Armes Häschen, bist du krank, dass du nicht mehr hüpfen kannst?»
    Das Mädchen sieht mich schreckensstarr an. «Ich will zu Mama», haucht es tonlos. «Nikola?»
    Ich zucke die Schultern und entsichere die Pistole. «Du hast es gehört. Sie will zu Mama.»
    Er begreift eine Sekunde zu spät, was ich tue, zu spät, um sich noch gegen mich oder zwischen uns werfen zu können. Der Schuss hallt ohrenbetäubend von den Wänden wider, in meinem Kopf explodiert er mit einer Heftigkeit, dass ich kurz glaube, selbst getroffen zu sein. Aber hier darf ich nicht kotzen, schon gar nicht in dieser Situation.
    Jetzt schreit er, der Junge. Er hat die Hand der Kleinen nicht losgelassen, und er brüllt, als würde er ausgeweidet.
    Ich richte mich auf, es geht besser, als ich dachte. Momcilo bietet mir eine Zigarette an.
    «Nein», sage ich, weil ich nicht den schmerzenden Kopf schütteln will.
    «Sollen wir ihn auch?» Seine Hand vollführt eine schneidende Bewegung quer über den Hals.
    «Egal. Erschießt ihn oder steckt ihn zu den Männern in den Heizungskeller. Kann nicht schaden, wenn sie hören, was oben los ist.»
    Dann gehe ich aus der Werkstatt, die Gasse entlang. Der Junge schreit immer noch, und ich finde keine Stelle, an der ich unbeobachtet kotzen kann. Mein Schädel ist eine Hölle aus Schmerz.
    Über den Platz, zum Rathauseingang. Die Treppen hoch ins Bürgermeisterbüro. «Wer mich stört, ist ein toter Mann», sage ich zu dem Jungen, der vor meinem Zimmer Wache hält. Er nickt. Kann höchstens drei Jahre älter sein als dieser Nikola, der es jetzt wahrscheinlich schon hinter sich hat.
    Das Klo des Bürgermeisters ist sauber und riecht nach Kirschen und Chemie.
     
    Später am Tag machen wir uns daran, die Häuser nach Wertvollem zu durchsuchen. Mein Kopfschmerz ist nur noch ein Schatten hinter der Stirn, aber ich weiß, dass ihm jederzeit wieder Klauen und Zähne wachsen können.
    Bevor ich aufbreche, sehe ich mich im Versammlungsraum um, wo von uns nur noch ein paar der Jüngeren sitzen – und Zosim, der die Füße auf den Tisch gelegt hat und Angebergeschichten erzählt. In der Hand hält er eine schon halb geleerte Flasche Schnaps, allein der Geruch legt eine eiserne Klammer um meine Schläfen. «Weißt du noch, wie das Dorf hieß, wo wir sie alle von der Brücke haben springen lassen?», ruft er.
    «Nein. Frag Negovan, der merkt sich Namen.»
    Zosim nickt gutmütig und fährt mit seiner Erzählung fort. Keiner seiner Zuhörer wagt es, den Raum zu verlassen, obwohl sie wissen müssen, dass heute Zahltag ist. Unser Sold ist ein übler Witz, aber wir können behalten, was wir finden.
    Auf unserem Weg durch die Gassen begegnet uns kein einziger Dorfbewohner. Die, die wir nicht eingesperrt oder laufenlassen haben, müssen noch in den Kellern hocken. Auch hinter den Türen, deren Schlösser wir aufschießen, ist niemand mehr. Nur

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