Blinde Voegel
vergrößern», sagte er und berührte mit dem Zeigefinger den Kinderwagen, der in der rechten unteren Ecke ins Bild kam, leuchtend lila. Dahinter ein Mann, den Beatrice erst wahrgenommen hatte, als ihre Aufmerksamkeit sich nicht mehr auf die Festung konzentriert hatte. In einem grünen Anorak, auf dem Kopf eine weiße Wollhaube und ein zufriedenes Lächeln auf den Lippen, ging Boris Ribar über den Kapitelplatz. Er sah nicht in die Kamera, sondern hatte den Kopf zur Seite gedreht, sprach mit seiner jungen Frau, die einen Arm in den Kinderwagen streckte, vielleicht um einem der Zwillingsmädchen den Schnuller in den Mund zu stecken. Das Ehepaar lächelte, es musste ein schöner Spaziergang gewesen sein.
Die beiden waren nur zwei von mindestens fünfzehn Menschen auf dem Foto, die der Kamera teils das Gesicht, teils den Rücken zuwendeten. Das übliche Bild einer von Touristen überlaufenen Ecke der Stadt, die sich nicht fotografieren ließ, ohne dass Leute durch die Aufnahme liefen.
Ribar hatte Pallaufs Mitbewohner die Liste mit den Passwörtern abgekauft, er konnte den Beitrag sehr gut selbst gelöscht haben. Und er würde Beatrice dafür einen guten Grund nennen müssen. Sein Gesicht tauchte vor Beatrices innerem Auge auf, und sie versuchte, es mit einem zweiten in Übereinstimmung zu bringen, aber es wollte ihr nicht gelingen.
Gornja Trapinska. Der Name des Dorfes ging ihr nicht mehr aus dem Kopf, in irgendeiner Weise spielte das, was sich dort Anfang der Neunziger ereignet hatte, eine Rolle. Wenn man sie lesen konnte, verwiesen Nikolas und Iras mit Lyrik verbrämte Hinweise nicht nur auf Tod und Sterben an sich, sondern auch auf Krieg. Und auf einen Söldner, der seit gut zwanzig Jahren tot war.
Nur warum dann all der Aufwand?
Florin klappte die Mappe zu und gab sie Beatrice zurück. «Ich würde gerne zu Ribar fahren und nachsehen, ob seine Frau nicht für ihn gelogen hat.»
«Könnten wir machen, aber ohne Gerichtsbeschluss können wir sie nicht zwingen, uns reinzulassen, wenn sie nicht will.» Beatrice suchte in ihren Notizen herum, irgendwo hatte sie doch Ribars Handynummer notiert … ja, da war sie. Sie stellte die Verbindung mit unterdrückter Rufnummer her und lauschte auf das Freizeichen. Einmal, zweimal, dreimal. Es schaltete sich keine Nachrichtenbox an. Achtmal, neunmal. Sie legte auf. Wählte Stefans Nummer, unter der sich nach dem vierten Tuten die Sprachbox meldete.
«Hallo, hier ist Stefan Gerlach. Ich kann gerade nicht ans Telefon gehen, hinterlassen Sie mir bitte eine Nachricht nach dem Signalton. Danke.»
Langgezogenes Piepen. Beatrice räusperte sich. «Hallo, Stefan! Ruf mich bitte unbedingt schnell zurück. Wie sieht es beim Motel Fischer aus? Ist dir dort jemand aufgefallen? Die Forellenwegsiedlung war ein Schlag ins Wasser, wie’s aussieht. Okay, melde dich bei uns, ja?»
Nachdem sie die Verbindung getrennt hatte, blickte sie unschlüssig auf ihr Handy. Sie wollte mit jeder Faser ihres Herzens Tina und Nikola finden, das hatte Vorrang vor allem anderen. Weil die beiden Bescheid wussten, so wie Ehrmann es gewusst hatte. Ihn hatte sie gehen lassen, überzeugt davon, dass sie am nächsten Tag eine neue Chance haben würde, ihm sein Wissen zu entlocken, und das hatte sie sich immer noch nicht verziehen. Ein zweites Mal würde sie den Fehler nicht machen. Wenn Nikola und Tina erst vor ihr stehen würden, wäre die Lösung des Falls nur noch eine Frage von Stunden. Also versuchte sie es bei Bechner, vielleicht ging der ans Handy. «Ich bin gerade auf dem Weg nach Hause», sagte er.
«Oh.» Sie schluckte an ihrer Enttäuschung. «Heißt das, ihr habt Tina und Nikola nicht gefunden?»
«Was? Wovon reden Sie?»
Ihre Hand schloss sich fester um das Telefon. «Davon, dass Stefan gemeinsam mit Ihnen ein Motel überprüfen wollte.»
«Ach. Das hat er mir gar nicht gesagt. Er hat mich wohl nicht erreicht, ich war den Nachmittag über mit zwei Vernehmungen beschäftigt und hatte mein Handy ausgeschaltet, es gibt ja auch noch andere Fälle, die bearbeitet werden müssen.» Bechner legte eine kurze Pause ein. «Na ja, vielleicht ist er mit jemand anders losgezogen.»
Oder alleine, gegen jede Vorschrift. «Okay, danke für die Auskunft. Schönen Feierabend.»
Sie legte auf, wählte noch einmal Stefans Nummer. Wieder keine Reaktion, nur die Sprachbox, wie vorhin.
Florin, der das Gespräch mit Bechner mitgehört hatte, startete den Motor und legte den ersten Gang ein. «Wir fahren nach
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