Blinde Voegel
Seite verriet leider trotzdem nicht viel mehr als zuvor. Sie war sparsam mit Statusmeldungen, spielte weder Farmville noch Mafia Wars und kommentierte die Beiträge ihrer Freunde nur in Ausnahmefällen.
Dafür verlinkte sie YouTube-Videos, vor einem Tag erst «Thanatos» von Soap & Skin. Düstere Musik begleitet von düsteren Bildern. Die Sängerin ähnelte Ira sogar ein wenig.
Torn open tomb
I fell in your
Cold fission bomb
I fell in your war
Ages of delirium
Curse of my oblivion
Beatrice sah sich das Video bis zum Ende an, gleichzeitig fasziniert und bestürzt. Scrollte weiter nach unten, stieß auf den nächsten Link. Kindertotenlieder von Gustav Mahler.
War das Iras Art auszudrücken, was sie quälte? Lieder und Gedichte? Wenn man ihr gegenübersaß, wirkte sie vor allem wütend.
Zurück auf die Lyrikseite. Dort waren die Spekulationen rund um Pallaufs Tod fast verstummt, man hatte sich dem Alltag zugewendet. Umso besser. Jetzt konnte Tina Herbert endlich ihre Vorstellung abliefern.
Tina Herbert
Hallo, ich bin neu bei euch und freue mich, ab jetzt mitmischen zu können. Ich dachte mir, ich poste zum Einstand eines meiner Lieblingsgedichte, dann könnt ihr euch am ehesten ein Bild davon machen, welche Art Lyrik ich mag.
Sie stellte Sonnenuntergang von Christian Morgenstern ein, damit konnte man nichts falsch machen. Prompt trudelten die ersten «Gefällt mir» ein. Und die ersten Kommentare.
Dietmar Ahrn Wirklich schön. Ich mag diese sinnlichen Bilder.
Veronika Monika Danke! Das kannte ich noch gar nicht. Herzlich willkommen in unserer Runde.
Lisa Fischer «Das rotaufzuckende Grau des Meeres» ist meine liebste Stelle in dem Gedicht.
Und so weiter. Nette Nichtigkeiten, Hallos, drei Freundschaftsanfragen, die Beatrice alle akzeptierte, bevor sie das tat, was ihr eigentlich am Herzen lag. Sie öffnete ihre Chat-Liste und fand neben Ira Sagmeisters Namen einen grünen Punkt. Sie war online, bestens.
«Danke fürs Adden!», tippte Beatrice. «Ich habe mich eben auf deiner Seite ein wenig umgesehen. Mahler finde ich großartig.»
Die Antwort ließ auf sich warten. Beatrice holte sich Schokokekse aus dem Küchenschrank und wärmte grünen Tee in der Mikrowelle auf, doch als sie zurückkam, war immer noch nichts von Sagmeister zu lesen.
Dafür hatte Helen Crontaler sich lobend über das Morgenstern-Gedicht geäußert, und …
«Mahler und Kurt Cobain», erschien Iras Antwort im Chatfenster. «Heute ist bei mir aber Pantera dran.»
«Pantera?», antwortete Beatrice. «Kenne ich gar nicht.»
«Solltest du aber. Das war eine Heavy-Metal-Band. Tolle Texte.»
Sie schickte einen Link zu YouTube, den Beatrice in einem zweiten Fenster öffnete. Der Anfang klang, als würde jemand ein Tonband verkehrt herum abspielen, danach setzten die E-Gitarren ein, woben einen hypnotischen Klangteppich hinter der tiefen, vollen Stimme des Sängers. Gute Musik, der Text allerdings –
«Ist alles in Ordnung bei dir?», schrieb Beatrice.
Darauf folgte wieder eine Pause. «Wir kennen uns nicht, warum fragst du?»
Vorsichtig jetzt. Nicht mütterlich klingen und schon gar nicht amtlich. Beatrice atmete durch und rief sich das Mädchen vor Augen, dem sie vor wenigen Stunden gegenübergesessen hatte. Kettenrauchend, widerspenstig, zornig.
«Nur so. Wenn ich solche Musik höre, dann geht es mir meistens dreckig.» Fast hätte sie ich weiß, wie du dich fühlst geschrieben. Bloß nicht.
«Mir bedeutet das Lied viel», erschien Iras Antwort im Chatfenster. «Aus mehr als einem Grund. Ich höre es, wenn ich Entscheidungen treffen muss.» Der Titel des Liedes lautete «Suicide Note Part 1». Abschiedsbrief, Teil 1. Das war alarmierend.
«Okay», tippte Beatrice. Sie wollte das Gespräch nicht abreißen lassen, hatte aber keine Ahnung, wie sie es aufrechterhalten sollte, ohne dass Ira sie aufdringlich finden oder gar misstrauisch werden würde. Die Frage «und welche Entscheidungen triffst du so?» war auf jeden Fall tabu.
Noch mal den Pantera-Song abspielen.
Would you look at me now?
Can you tell I’m a man?
With these scars on my wrists
To prove I’ll try again
Try to die again, try to live through this night
Try to die again …
«Was hörst du so?»
Beatrice war so vertieft in den Song gewesen, so konzentriert auf den Text, dass sie Iras nächste Meldung erst jetzt sah. Dass sie das Gespräch fortführen wollte, war gut, aber gleichzeitig eigenartig. Tina Herbert hatte bisher nichts sonderlich Interessantes von sich
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