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Blinde Voegel

Blinde Voegel

Titel: Blinde Voegel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula Poznanski
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suchte und fand eine Stelle, an der sie zu den Gleiskörpern hinuntersteigen konnte. Noch war nichts zu sehen, die Scheinwerfer der Einsatzkräfte konzentrierten sich auf eins der mittleren Gleise.
    Ich hätte eine Lampe mitbringen müssen, dachte Beatrice, Sekunden, bevor sie das Bein sah. Am Oberschenkel abgetrennt, Turnschuh und Socken waren noch dran. Das Bein einer jungen Frau, das wie weggeworfen an der Böschung lag.
    Und in den Sträuchern hängt ihr Fleisch wie Blüten.
    Die Erinnerung an das von Ira gepostete Gedicht drohte Beatrice für einen Moment den Boden unter den Füßen wegzuziehen.
    Schwer atmend erreichte sie die Gruppe von Einsatzkräften, die gerade begann, die Umgebung abzusuchen. Sie packte den Ersten, den sie erwischte, an der Schulter und hielt ihm ihren Dienstausweis vors Gesicht.
    «Was genau ist passiert? Und wann?»
    Der Mann griff nach dem Ausweis, betrachtete ihn genau und gab ihn Beatrice zurück. «Vor knapp zwanzig Minuten ist jemand vor den Intercity gesprungen. Ob von der Brücke oder einfach von der Seite, wissen wir noch nicht, gemeldet hat es niemand. Der Zugführer sagt, die Person war ganz plötzlich da, wie aus dem Nichts, aber wir konnten ihn noch nicht richtig befragen.» Der Mann deutete mit dem Kinn nach rechts, wo jemand zusammengekrümmt am Boden kauerte und am ganzen Körper bebte, während der Notarzt auf ihn einsprach.
    «Wissen Sie schon etwas …» Beatrice räusperte sich, begann noch einmal. «Wissen Sie schon etwas über die Identität des Opfers?»
    Fast hätte ihr Gegenüber gelacht, besann sich aber rechtzeitig eines Besseren. «Das ist Ihre erste Schienenleiche, oder? Sie müssen sich ein wenig gedulden, bis wir alles … beisammen haben. Manchmal verteilt sich so ein Körper über mehrere hundert Meter …»
    Er musste etwas in Beatrices Gesicht sehen, das ihn innehalten ließ. «Muss jetzt weitermachen», brummte er, drehte sich um und ging.
    Mittlerweile waren auch Florin und Stefan an den Schienen angelangt. Stefan hielt sich die Hand vor den Mund, es musste der Geruch sein, dieser Geruch nach Schlachthaus, der über den Gleisen hing, nach frischem Tod.
    «Ich habe mit dem Einsatzleiter gesprochen, die Bahnstrecke bleibt für mindestens zwei Stunden gesperrt.» Florin sprach schneller als sonst, sein Blick irrlichterte über die Schienen, die Böschung, den Bahndamm. «Ich habe auch Drasche schon informiert. Vogt will ebenfalls kommen, bis dahin dürfen wir … nichts anrühren.»
    «Ja.» Beatrice deutete vage in Richtung des abgerissenen Beins. «Aber wir könnten das doch abdecken, nicht?» Sie schluckte trocken. Die Polizistin in ihr wollte sich auf die Suche nach weiteren Körperteilen machen, gleichzeitig wäre sie am liebsten abgehauen. Das hier war schauderhaft, egal, ob sie es mit Ira Sagmeisters Überresten zu tun hatten oder mit denen eines anderen Menschen.
    Voll Mitgefühl beobachtete sie den in sich zusammengesunkenen Zugführer. Man hatte ihm eine Decke um die Schultern gelegt. Ein Sanitäter saß bei ihm, nachdem der Notarzt fortgerufen worden war und nun an einem weiter entfernten Schienenabschnitt hockte. Was wohl bedeutete, dass sie ein neues Fundstück hatten.
    Ohne dass sie sein Näherkommen bemerkt hatte, stand Florin plötzlich neben ihr und nahm sanft ihre Hand in seine. «Wenn es wirklich Ira ist, darfst du dir keine Vorwürfe machen.» Seine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. «Du hast sie ernst genommen und alles getan, um ihr zu helfen.»
    Sie wich seinem Blick aus, ließ aber zu, dass er ihre Hand fester umschloss. Es tat gut, sein Griff war wie ein Anker im Chaos, auch wenn ihr gerade bewusst geworden war, wie fragil solch eine Hand war, wie leicht sie vom Körper gerissen werden konnte.
    «Ist dir kalt?»
    Sie schüttelte den Kopf. Der Schauer, der ihr eben über den Rücken gelaufen war, hatte andere Ursachen. Langsam, aber bestimmt löste sie ihre Hand aus der Florins. Selbst als freundschaftliche Geste war Händchenhalten hier wirklich unpassend. «Ich möchte versuchen, mit dem Zugführer zu sprechen.»
    Oben an der Straße wurde der Motor eines Autos abgewürgt, und während Florin Drasche erst zuwinkte und ihm dann entgegenging, machte Beatrice sich langsam auf den Weg zu dem geschockten Mann.

    «So schnell ist es gegangen, so schnell.» Die Augen des Zugführers blickten ins Nichts, oder, wahrscheinlicher sogar, sie blickten in eine Vergangenheit, die kaum mehr als eine halbe Stunde zurücklag. Er war

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