Blinde Voegel
fünfundzwanzig. Fragte sich, ob sie nicht doch einfach stehen bleiben sollte. Sie würde alles früh genug zu Gesicht bekommen, auf detailreichen, gut ausgeleuchteten Fotos.
Zweiunddreißig. Sie waren fast da. Etwas lugte hinter Drasche hervor, verdreht, aber erkennbar. Ein Arm.
Unwillkürlich war Beatrice langsamer geworden, und Vogt, der offenbar eben eingetroffen war, überholte sie. Er reckte seinen Kopf und spähte an Drasche vorbei. «Na, das nenne ich einen sauberen Schnitt», hörte Beatrice ihn sagen.
Neunundvierzig, fünfzig, einundfünfzig. Durchatmen. Hinsehen.
Ein zerstörter Oberkörper mit einem ausgefransten Loch dort, wo einmal der rechte Arm gewesen war. Beatrice vermied es, die Stelle genauer zu betrachten, an der die Räder des Zuges den Unterleib vom Rest abgetrennt hatten, und konzentrierte sich stattdessen auf den Kopf.
Ira, keine Frage. Im Vergleich dazu, wie ihr Körper zugerichtet war, wirkte ihr Gesicht fast unbeschädigt, es war Beatrice zugewandt, mit halb geöffneten Augen, die ihr gegen jedes bessere Wissen den Eindruck vermittelten, Ira würde sie ansehen.
Der Tod ist groß. Wir sind die Seinen.
Aber das stimmte nicht, egal, was Rilke schrieb. Der Tod war schmutzig und stank, und er verlieh einem Menschen nicht mehr Größe als einem auf der Straße überfahrenen Frosch. Er reduzierte jeden zu Fleisch.
Beatrice spürte, dass Florin sie beobachtete, und bemühte sich um Haltung. «Gut», sagte sie, lauter als beabsichtigt. «Wir wissen also jetzt, dass sie es ist.»
«Ja.»
Ging es ihm auch nahe? Nun blickte Beatrice doch hoch, sah, wie Florins aufeinandergepresste Lippen ein angestrengtes Lächeln formten. «Lassen wir Drasche und Vogt ihre Arbeit machen. Wir haben alles gesehen, was nötig ist.»
Beatrice wollte zustimmen, schon aus purer Erleichterung, aber das Gefühl, hier wirklich fertig zu sein, stellte sich nicht ein. Etwas stimmte noch nicht, etwas fehlte …
Dann wusste sie es. «Wo ist Iras Computer? Sie hat bis kurz vor ihrem Tod mit mir kommuniziert, das Gerät muss in der Nähe sein.»
Wenn es den Sprung vor den Zug mitgemacht hatte, war es jetzt über die Landschaft verteilter Schrott, aber dennoch mussten sie versuchen, es zu finden. Vielleicht hatte ein Wunder die Festplatte unbeschädigt gelassen.
«Sie kann es überall abgelegt haben.» Florins Hand beschrieb einen Halbkreis, der die Brücke, die Gleiskörper und den Bahndamm mit einbezog. «Hier oder anderswo. Das Gleiche gilt für ihr Handy. Bei Nacht werden wir nichts davon finden, fürchte ich.»
Trotzdem ging Beatrice langsam und mit gesenktem Blick die Schienen entlang, besah sich jede Stelle, die von den Scheinwerfern beleuchtet wurde. Sie fand plattgewalzte Getränkedosen, Bierverschlüsse, eine Euro-Münze. Aber keine Computerteile.
Stefan, der bisher bei den Einsatzkräften gestanden hatte, um sich den Ablauf von Beginn an schildern zu lassen, schloss sich ihr an. Er würde jedes Computerbauteil zweifelsfrei erkennen, behauptete er, auch wenn es verformt worden wäre.
Doch auch er fand nichts. «Sie wird ihn irgendwo zurückgelassen haben.»
Möglich. Und falls das stimmte …
«Ihr Datenstick», warf Florin ein. «Sie war in einer Ausnahmesituation, es wird ihr nicht wichtig gewesen sein, noch offline zu gehen, also besteht die Chance, dass wir das Notebook orten können.»
Stefan nickte heftig. «Ich kümmere mich darum, kann jemand mich ins Büro fahren?»
Die Atmosphäre im Wagen war schwermütig wie selten. Sie fuhren den Weg zurück, den sie gekommen waren, zu Ira Sagmeisters Wohnung, wo Beatrices Auto parkte. Der Gedanke, nach Hause zu müssen, bedrückte sie. Schlaf würde eine riskante Sache sein; es war damit zu rechnen, dass er den Bildern in ihrem Kopf grauenvolles Leben einhauchen würde.
Sie stieg in ihr Auto und fuhr langsam, war für jede rote Ampel dankbar. Fast ein Uhr. Sollte sie Katrin überhaupt wecken? Aber sie war ohnehin noch wach, saß im Schneidersitz auf der Couch und sah sich nächtliche Wiederholungen von «CSI» an. Polizei-Fantasy.
«Die beiden haben nicht einmal gemerkt, dass du weg warst», sagte sie. «Keiner von ihnen ist aufgewacht, alles bestens.» Beatrice zog fünfundzwanzig Euro aus ihrer Geldbörse und drückte sie Katrin in die Hand. Jetzt erst löste sie ihren Blick vom Bildschirm und sah Beatrice an, stirnrunzelnd. «Bei dir aber nicht, oder? Ist etwas Schlimmes passiert?»
Von einer Siebzehnjährigen geduzt zu werden, vermittelte
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