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Blinde Voegel

Blinde Voegel

Titel: Blinde Voegel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula Poznanski
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Mitte dreißig, vermutete Beatrice, etwa in ihrem Alter.
    «Sie war auf einmal da. Zack. Ich habe noch versucht zu bremsen, natürlich, habe aber gewusst, das ist zu spät, und dann …» Sein Mund öffnete und schloss sich. «Dieses Geräusch, mein Gott, dieses –»
    Er presste die Hand auf den Mund, doch es half nichts, zwischen seinen Fingern quoll Erbrochenes hervor, und nun weinte er.
    Beatrice zog eine Packung Papiertaschentücher aus ihrer Jackentasche, reichte dem Mann eines nach dem anderen und wartete geduldig, bis er Hände und Gesicht notdürftig gesäubert hatte. «Wir brauchen Wasser», rief sie einem der vorbeieilenden Sanitäter zu, doch der hörte sie nicht oder tat jedenfalls so. Es stank, aber Beatrice hakte sich dennoch bei dem Zugführer ein. «Ich bin Bea. Wie heißt du?»
    «Josef. Josef … Kainach.»
    Sie drückte seinen Arm. «Wir haben einen beschissenen Abend erwischt, Josef. Und ich kann dir sagen, er wird so schnell nicht besser werden. Aber ich wäre sehr froh, wenn du mir erzählen würdest, was genau passiert ist. Du sagst, es war ein Mädchen?»
    Er nickte, zog die Nase hoch. «Ja. Jung.»
    «Und sie ist auf die Schienen gesprungen? Von oben oder von der Seite?»
    «Weiß ich nicht. Von oben wahrscheinlich. Sie – ist hingefallen, und ich glaube, sie wollte noch mal aufstehen. Aber ich war so beschäftigt mit dem Bremsmanöver, und im letzten Moment … hab ich weggesehen. Aber das Geräusch …»
    Er brach wieder in Tränen aus. Beatrice ließ ihn weinen und hielt ihn fest. Drasche marschierte an Florins Seite heran. Sein Mund war zu einem Strich zusammengepresst, der Blick überaus konzentriert. Mit einem Handscheinwerfer leuchtete er jeden Meter um sich herum ab. Beatrice nahm er dennoch nicht zur Kenntnis.
    «Was ist dann passiert, Josef?» Sie reichte ihm ein weiteres Taschentuch.
    «Dann hat der Zug endlich gestanden», schluchzte er. «Ich bin sofort rausgesprungen und zurückgelaufen, aber da war zuerst gar nichts, und dann … ein Stück Bauch mit einem Bein dran. Nur einem.» Er würgte wieder, hustete, erbrach sich diesmal aber nicht.
    «Dann bin ich zurück. Und dann war da dieser Geruch, und der geht jetzt nicht mehr weg.» Er sah Beatrice an. Sie musste an Jakob denken, an seinen tränenverschleierten Blick, wenn er schlecht geträumt hatte. «Hab die Zentrale informiert. An meiner Lok … Bea? Da klebt was. Ich weiß nicht, was es ist, es muss etwas von ganz tief drin im Körper sein. Ach Scheiße!» Er vergrub seinen Kopf in den Händen, wiegte sich vor und zurück, leise weinend.
    «Du hast alles richtig gemacht, Josef.» Beatrice legte die ganze Bestimmtheit, derer sie fähig war, in ihre Worte. «Niemand hätte es besser machen oder gar verhindern können. Du bist nicht schuld. Okay?»
    Er antwortete nicht, nickte nur, ohne die Hände vom Gesicht zu nehmen. Beatrice blieb bei ihm sitzen, einerseits, weil sie ihn nicht allein lassen wollte, andererseits, weil sie früh genug sehen würde, worüber Drasche sich gerade beugte, dreißig Meter rechts von ihr.
    Ein Stück Bauch mit einem Bein dran.
    Erst, als einer der Sanitäter zurückkam und Josef zum Krankenwagen brachte, schloss sie sich ihren Kollegen an.

    Es war nach elf Uhr, als sie endlich den Rumpf fanden. Ein Arm und der Kopf hingen noch daran. Der junge Uniformierte, der hinter dem richtigen Busch nachgesehen hatte, war bleich wie der Mond, der über ihnen stand.
    «Du musst nicht mit hinüberkommen», erklärte Florin. «Wirklich nicht. Wenn ihr Gesicht erkennbar ist, kann ich sie alleine identifizieren.»
    «Nein.» Knapp klang das und scharf, so hatte Beatrice es nicht gemeint. «Nein», wiederholte sie freundlicher. «Ich will dabei sein.»
    Was nicht ganz der Wahrheit entsprach. Sie wollte nicht, sie fühlte sich dazu verpflichtet. Es war die logische Konsequenz aus allem, was passiert war.
    Man kann es auch den Preis fürs Zuspätkommen nennen. Wenn ich Ira schon während unseres Besuchs richtig eingeschätzt hätte, oder wenn ich sie heute Abend auf Facebook anders angepackt hätte …
    Sie musste sich bremsen. Keine Wenns mehr. Zumindest das sollte sie als Lehre aus den letzten Jahren zu ziehen imstande sein. Alles wäre und hätte war einem großen so ist es zum Opfer gefallen. Wie immer.
    Beatrice zählte die Schritte, die sie neben Florin herging. Fünfzehn, sechzehn. Konzentrierte sich auf den bereits am Fundort knienden Drasche, auf seinen weißen Rücken. Vierundzwanzig,

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