Blinde Voegel
Beatrice jedes Mal das eigenartige Gefühl, selbst nicht viel älter zu sein. Sie hatte nicht gedacht, dass sie an diesem Abend noch einmal lächeln würde.
«Das kannst du laut sagen.»
Katrin hob beide Hände in einer abwehrenden Geste. «Bitte keine blutigen Details! Schlaf trotzdem gut, ja?» Sie wedelte mit den drei Geldscheinen. «Und jederzeit gerne wieder.»
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Kapitel neun
D er Himmel war grau, und das Wasser, das er in schweren Tropfen zu Boden fallen ließ, war es auch.
Es kostete Beatrice Mühe, sich auf die Besprechung zu konzentrieren. Fünf Stunden Schlaf hatten nicht gereicht, um neue Kraft zu sammeln, ebenso wenig wie die drei Tassen Kaffee, die sie bisher getrunken hatte. Eine vierte stand vor ihr, und der Inhalt wurde allmählich kalt.
«Also weist alles auf einen Schienensuizid hin?», hörte sie Hoffmann sagen und begriff erst Sekunden später, dass die Frage ihr galt.
«Ja. Ira Sagmeister hat sich auf Facebook verabschiedet und die Tat mehr oder minder angekündigt.»
«Mehr oder minder?»
«Richtig.» Beatrice holte den Computerausdruck des Threads aus ihrer Mappe. «Ich möchte mich von euch verabschieden», las sie vor. «Ich steige hier aus, aber seid nicht beleidigt. Ich steige überhaupt aus. Nicht nur hier. Auf Wiedersehen.»
Das war das eine. Dann ist es zu spät, du kannst mich mal , war das andere. Das würde sie hier auf keinen Fall aufs Tapet bringen.
«Davor und danach hat sie Gedichte eingestellt, die sich um Tod und Sterben drehen. Aber das war ihre Art, soweit ich es beurteilen kann. Ich habe gelesen, was sie in den vergangenen Monaten geschrieben hat, und nichts davon war heiter.»
Quer über Hoffmanns Stirn gruben sich Falten. Sein Blick ließ die Tischplatte nicht los, er bewegte lautlos die Lippen, schüttelte dann den Kopf. «Einfach ein ganzes Leben weggeworfen. Ein gesundes Leben. Undankbar, oder? Finden Sie nicht?»
Die Frage war an Florin gerichtet. «Aus Sicht der Betroffenen stellt es sich vermutlich anders dar», antwortete er nach kurzem Zögern.
Beatrice war froh, von Vogt über Hoffmanns Frau ins Bild gesetzt worden zu sein, sonst hätte sie nun mit hochgezogenen Augenbrauen in die Runde geblickt und bestimmt etwas Falsches gesagt. Sie hatten so oft mit Selbstmorden zu tun, und bisher war Hoffmann deshalb nie sentimental geworden.
«Lassen Sie uns weitermachen», unterbrach Vogt das Schweigen, noch ehe es unangenehm werden konnte. «Ich habe die Fotos hier und bin zuversichtlich, dass alle in der Runde den Anblick von Gedärmen verkraften.» Schwungvoll breitete er die Bilder auf dem Tisch aus. «Wir haben sämtliche Puzzleteile gefunden, und heute Nacht hatte ich das Vergnügen, sie so gut es ging zusammensetzen zu dürfen. Meines Erachtens nach sollte es ausgeschlossen sein, dass irgendein Retriever beim Gassigehen noch Häppchen entlang der Bahngleise findet.»
Beatrice mochte Vogt und verstand, dass er nur seinen schwarzhumorigen Schutzschild hochfuhr. Aber heute konnte sie das nicht vertragen, nicht im Zusammenhang mit dem Mädchen, das Rilke zitiert und Radiohead gehört hatte. I’m not here. This isn’t happening. Vor vierundzwanzig Stunden waren die blutigen Klumpen auf den Fotos noch ein atmender Mensch gewesen. Ein hübsches Mädchen, das Tücher im Haar trug und ein grünes Fahrrad fuhr. Sie schob die Tasse mit dem erkalteten Kaffee zur Seite, sie hielt den Geruch nicht mehr aus.
«Ich wäre sehr froh, wenn wir mehr Sachlichkeit in diese Besprechung bringen könnten», sagte Florin an ihrer Seite. Kurz war sie versucht, ihm dankbar den Arm zu drücken, tat es natürlich nicht. Holte lieber tief Luft.
«Danke, Florin. Ich möchte noch einmal auf den möglichen Zusammenhang mit den Todesfällen Pallauf und Beckendahl hinweisen. Alle drei waren in der Lyrik-Facebookgruppe. Wollen wir das wirklich als irrwitzigen Zufall abhaken?»
Vogt zuckte die Schultern, das war nicht seine Angelegenheit. Er begann, in seinem Aktenkoffer zu graben. Beatrice hoffte inständig, er würde weder weitere Bilder noch womöglich etwas Essbares zutage fördern.
Ihr Hinweis auf Facebook hatte zusätzliche Furchen in Hoffmanns Miene gegraben. «Kaspary, erinnern Sie sich bitte an Goethes Werther. Selbstmord ist ansteckend für die, die ohnehin gefährdet sind. Ich bin ja kein Psychologe, aber es würde mich nicht wundern, wenn gerade Leute, die sich die Zeit mit Gedichten vertreiben, da besonders anfällig wären.»
Das war so
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