Blinde Voegel
abgeholt, allerdings hat das laut Stefan niemand gesehen.»
Ein schneller Blick auf ihr eigenes Notebook. Ira hatte immer noch nicht geantwortet, trotzdem schickte Beatrice ihr eine weitere beschwörende Nachricht über den Chat, wenn auch ohne große Hoffnungen.
Der Rest der Gruppe befand sich immer noch in hellem Aufruhr. Iras Handynummer schien die Runde gemacht zu haben, und die Mitglieder wechselten sich dabei ab, sie anzurufen. Wahrscheinlich hatte sie das Telefon längst abgeschaltet. Oder weggeworfen, manche Selbstmörder taten das, bevor sie ernst machten. Die Verbindungen zum Rest der Menschheit kappen.
«Am liebsten würde ich kreuz und quer durch Salzburg fahren und nach ihr Ausschau halten.» Dass sie den Gedanken laut ausgesprochen hatte, wurde Beatrice erst klar, als sie Florins prüfendem Blick begegnete.
«Dir liegt viel an dem Mädchen, hm?»
War das so? Beatrice klopfte ihre Gefühle ab. Sie kannte Ira kaum, aber trotzdem –
«Sie ist so … jung.» Das war ein Teil der Wahrheit, aber es war nicht alles. Iras Reaktion auf Beatrices Bluff, und jetzt ihr beharrliches Schweigen … «Ich werde das Gefühl nicht los, sie weiß etwas, das sie uns nicht gesagt hat. Über Pallauf. Oder Beckendahl. Oder beide.»
Und dann darf sie nicht einfach sterben, ohne ihr Wissen mit uns geteilt zu haben. Ein egoistischer Polizistengedanke.
«Wir können nicht nur rumsitzen und warten, dass sie zurückkommt», sagte sie, ohne den Blick vom Bildschirm des Notebooks zu nehmen. «Lass uns etwas unternehmen, Florin. Bitte.»
«Die Handyortung sollte bald ein Ergebnis bringen.» Er wischte sich mit einer der Blumenservietten die Kuchenkrümel von den Händen. «Aber du weißt, wir erfahren dann nur, in welcher Zelle das Telefon eingebucht war. Damit haben wir Ira noch lange nicht gefunden.» Er ging neben dem Couchtisch in die Hocke, drehte das Notebook zu sich und begann, Iras Eintrag zu lesen. Wenn ich sterbe.
«Wenn wir sie finden, sollten wir eine Psychologin dabeihaben», sagte Florin leise. «Jemanden, der Ahnung davon hat, wie man mit suizidgefährdeten Menschen umgeht.»
Ja, natürlich! Beatrice holte ihr Handy heraus und durchsuchte das Telefonbuch. Mit Hanna Rimschneider hatte sie in den letzten Jahren gute Erfahrungen gemacht, ebenso mit Vera Stolte-Kern, die immer wieder das Kriseninterventionsteam verstärkte …
«Leute!» Stefan platzte ins Zimmer hinein, sein Telefon erhoben wie ein Signalschild. «Wir haben eine Ortung. Das Handy war in einer Zelle in der Parscher Straße eingeloggt, vor fünfundzwanzig Minuten.»
Sie nahmen Florins Wagen. Loszufahren war viel besser, als einfach weiter abzuwarten, obwohl Beatrice aus dem Schweigen der beiden anderen schloss, dass sie sich von der Fahrt nur wenig versprachen. Zu Recht. Ira Sagmeister würde ganz sicher nicht an einer Straßenecke warten und ihnen zuwinken, aber immerhin konnten sie die Lokale in der Umgebung abklappern und nach ihr fragen.
Das erste Einsatzfahrzeug überholte sie in der Vogelweiderstraße. Ein Krankenwagen mit Blaulicht, dem unmittelbar ein Polizeiwagen folgte. Etwas Kaltes flutete durch Beatrices Adern. Die Parscher Straße war nicht mehr weit. Wären sie mit einem Dienstwagen gefahren, dann hätte der Polizeifunk ihnen schon verraten, was los war.
Von der Sterneckstraße aus konnte man die blinkenden Lichtspiele bereits sehen. Blaues Flackern, das von den Hauswänden zurückgeworfen wurde.
«Sie stehen auf der Eichstraßenbrücke.» Beatrice sah Florin hart schlucken, er wandte den Blick keine Sekunde lang von der Straße. «Vielleicht ist es ein Verkehrsunfall.»
Das Wort hoffentlich sprach er nicht aus, aber es schwang mit. Die Brücke führte über die Gleise der Westbahn, und eine Ahnung breitete sich in Beatrice aus, kalt und unbezwingbar wie ein über die Ufer tretendes Gewässer.
Sie sprang aus dem Wagen, noch bevor er zum Stehen gekommen war, und rannte auf den ersten Polizisten zu, den sie sah, den Dienstausweis bereits in der Hand.
«Kaspary, Abteilung Leib und Leben. Was ist passiert?»
Der Kollege war jung, knapp dreißig, schätzte sie. «Wahnsinn, seid ihr flott! Wir sperren hier gerade erst ab.»
«Was passiert ist, will ich wissen!»
Er sah zum Brückengeländer hin und schnell wieder weg. «Jemand ist vor den Zug gesprungen.»
Beatrice nickte, ihre Kehle war so trocken, dass sie kein weiteres Wort herauszuzwingen imstande war. Jemand ist vor den Zug gesprungen, und ich weiß, wer es war.
Sie
Weitere Kostenlose Bücher